Krieg in der Ukraine:Ukrainische Armee rückt auf Cherson vor

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Kiews Truppen erzielen große Geländegewinne im Süden, Putins Mobilmachung macht sich an der Front noch nicht bemerkbar. Doch eine Rückeroberung der Stadt dürfte schwierig werden.

Von Florian Hassel, Warschau

Es sind einige der besten Einheiten der russischen Armee, die Moskau in den vergangenen Monaten in die besetzte Region Cherson geschickt hat, um die Befreiung durch die ukrainische Armee zu verhindern: etwa die 76. Garde-Fallschirmspringer-Division.

Doch auch Elitetruppen haben nicht verhindern können, dass die ukrainische Armee nach ihrer Großoffensive in der Region Charkiw nun auch in der Region Cherson große Gewinne erzielt und auf die gleichnamige Stadt vorrückt: eine Stadt mit einer Vorkriegsbevölkerung von 290 000 Einwohnern und neben Mariupol die einzige ukrainische Großstadt, die russische Truppen in diesem Krieg überhaupt unter ihre Kontrolle bringen konnten. Wie auch Mariupol hat Cherson große strategische Bedeutung: als Hafenstadt am Dnjepr kurz vor dessen Mündung ins Schwarze Meer, die einen Weg auf die besetzte Krim kontrolliert.

Allein am 4. Oktober konnten die Ukrainer das wichtige Dorf Dawydiw Brid und 18 weitere Dörfer in der Region befreien und offenbar 25 Kilometer vorrücken, weil russische Einheiten vernichtet wurden oder sich fluchtartig zurückzogen. "Die Lage im Süden ist kritisch", gab ein Kriegsreporter der russischen Radio- und Fernsehgesellschaft zu. "Bisher verlieren wir Menschen und Territorium."

Offenbar hat die russische Armee keine zweite Verteidigungslinie aufgebaut

Das liegt an mehreren Faktoren, etwa an zu wenigen russischen Soldaten für eine zu lange Front. Ein russischer Militärblogger (ein oft mit russischen Einheiten arbeitender Journalist oder Militär) meldete, eine Frontlinie von 20 Kilometern brauche mindestens 500 Soldaten zur Verteidigung gegen einen Angreifer - tatsächlich stehe nur ein Drittel davon zur Verfügung. Insgesamt ist die Front in der Region Cherson rund 200 Kilometer lang. Dem Analytiker Kyrylo Mychajlow vom unabhängigen Conflict Intelligence Team zufolge spricht der rasche ukrainische Vormarsch dafür, dass die Russen hinter der von den Ukrainern durchbrochenen Verteidigungslinie auf Dutzenden Kilometern keine zweite aufgebaut hatten.

Warum rücken die Ukrainer gerade jetzt vor? Ein Teil der Antwort: Weil die Ukrainer die Offensive hier erst gründlich vorbereiteten, vor allem mit der Zerstörung dreier wichtiger Brücken und Angriffen mit satellitengesteuerten US- Himars-Raketen und ähnlichen britischen Systemen auf russische Munitionsdepots, Kommandopunkte und Kasernen, Artillerie- und Radarstellungen. Deren Koordinaten bekommen die Ukrainer von proukrainischen Zuträgern und den Geheimdiensten von Amerikanern und Briten. Für die Ukrainer wiederum drängt die Zeit, bevor Herbst und Winter Offensivaktionen deutlich erschweren.

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Zwar hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Mobilisierung befohlen, doch deren Folgen sind an der Front in der Ukraine bisher nicht wahrnehmbar. Dem russischen Militärblogger zufolge müssen etwa die in der Region Cherson eingesetzten Soldaten der 126. Küstenschutzbrigade der russischen Schwarzmeerflotte seit März ohne Ersatz ausharren.

"Die dünne, unterbesetzte Frontlinie erklärt zusammen mit effektiven ukrainischen Offensivoperationen teilweise die rapide Rate des russischen Kollapses", analysierte das Institut für Kriegsstudien in Washington. Außerdem würden bei fortlaufendem Krieg "auch die elitärsten russischen Militärkräfte zunehmend geschwächt".

Gerade in der Region Cherson hat die Ukraine herbe Verluste erlitten

Über den Erfolgsmeldungen gerät freilich in den Hintergrund, dass die Ukrainer gerade in der Region Cherson seit Monaten herbe Verluste erlitten haben. Ein Offizier schilderte der New York Times noch Ende September, dass allein beim - erfolglosen - Angriff auf ein von Russen gehaltenes Dorf Hunderte Soldaten getötet oder verwundet worden seien.

Auch die Stadt Cherson selbst ist für die Ukrainer längst Ziel: In der Nacht zum Mittwoch etwa traf eine Himars-Rakete im Stadtzentrum das Hotel Ninel, in dem angeblich Offiziere des russischen Geheimdienstes FSB und andere russische Funktionäre untergebracht waren.

Ungleich schwieriger freilich wäre ein ukrainischer Angriff auf Cherson selbst, wo dem Analytiker Kyrylo Mychajlow vom unabhängigen Conflict Intelligence Team zufolge immer noch "genug erfahrene, starke russische Einheiten" stationiert sind. Das Gebiet vor Cherson bietet für ein Vorrücken wenig Deckung.

Putins Sprecher behauptete am Mittwoch, die am Dienstag durch Russland offiziell annektierte Region werde trotz des Rückzuges zurückerobert. Doch kritischer als derlei Aussagen sind für die Ukrainer zunächst fortdauernde russische Angriffe mit Marschflugkörpern, Raketen und iranischen Drohnen auf ukrainische Städte, etwa auf Bila Zerkwa 80 Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew.

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