Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Poroschenkos Sündenregister

Warum das Staatsoberhaupt nach fünf Jahren Amtszeit auch bei seinen Anhängern in Ungnade gefallen ist - eine Spurensuche zur Stichwahl um das Präsidentenamt.

Von Florian Hassel, Poltawa

Walentina Radtschenko muss nicht lange überlegen, um Anhänger von Wolodymyr Selensky zu nennen. Ihre Freundin in der Westukraine stimme für den 41 Jahre alten Komiker als nächsten Präsidenten der Ukraine. Ebenso ihre Arbeitskollegin. Und als die 54 Jahre alte Buchhalterin ihre Eltern besucht, die sich in der Nähe von Poltawa neben einem kleinen Haus um einen Garten und fünf Hühner kümmern, sagt auch ihr 83 Jahre alter Vater, er werde für Selensky stimmen.

Wolodymyr Selensky, der nie ein öffentliches Amt innehatte, steht davor, der neue Präsident der Ukraine zu werden. Schon vor der Stichwahl gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko am Sonntag sagten Umfragen Selensky bis zu 73 Prozent der Stimmen voraus; Poroschenko bestenfalls 27 Prozent. Daran änderte auch die einzige direkte, hitzig verlaufene Debatte zwischen Selensky und Poroschenko am Freitagabend im Kiewer Olympiastadion vor 70 000 Zuschauern nichts.

Menschenrechtler zählen in den letzten fünf Jahren zehn politische Morde

Der Aufstieg des Komikers hat indes wenig mit ihm und viel mit Poroschenko zu tun: Der Präsident hat in seinen fünf Jahren im Amt viele Ukrainer enttäuscht. "Viele meiner Bekannten stimmen nur für Selensky, weil sie gegen Poroschenko sind", sagt Radtschenko. In Poltawa, einer 300 000-Einwohner-Stadt 330 Kilometer östlich von Kiew, bekam der Präsident beim ersten Wahlgang am 31. März nur elf Prozent der Stimmen, Herausforderer Selensky fast 36 Prozent.

Auf den ersten Blick wirkt Poltawa wie eine russische Stadt. 1709 verloren bei Poltawa die Ukrainer zusammen mit den damals massiv expandierenden Schweden eine Schlacht gegen die Armee des Zaren: Es war die Grundlage für Moskaus weiteres Vorrücken nach Westen und Süden und seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht. Die Zaren ließen in Poltawa rund um einen neuen Stadtpark einen Ring imperialer Prachtbauten nach dem Vorbild von Sankt Petersburg bauen. Doch Poltawa ist auch Heimat Iwan Kotliarewskys, Anfang des 19. Jahrhunderts ein Pionier ukrainischer Literatur, oder von Simon Petliura, nach dem 1. Weltkrieg einer der Väter ukrainischer Unabhängigkeit, bevor die Sowjetunion sich die Ukraine auf Jahrzehnte einverleibte.

Walentina Radtschenko ist eine elegante Dame, die zum roten Kleid neben altmodischen grünen Ohrringen auch ein silbernes Tryzub trägt, das Nationalemblem der Ukraine. Radtschenko ist Patriotin, als Russland 2014 die Krim besetzte und den Krieg in der Ostukraine begann, stimmte Radtschenko für Poroschenko. Doch der Präsident hat sie enttäuscht. "Poroschenkos Versprechen, den Krieg schnell zu beenden, hielt ich schon damals nicht für realistisch", sagt sie. Den Vereinten Nationen zufolge sind im Krieg in der Ostukraine mehr als 13 000 Menschen gestorben, und auch am Wahltag dürfte weiter geschossen werden: Verhandlungen über eine Oster-Feuerpause scheiterten. "Aber ich habe gehofft, wir würden wenigstens bei anderen Dingen wie der Wirtschaft Fortschritte machen", sagt Radtschenko. "Aber unser Land tritt auf der Stelle."

Radtschenko verdient als Buchhalterin in einer Computerfirma 300 Euro, ihr Mann bekommt als Nachtwächter ein noch niedrigeres Gehalt. Wenn die Radtschenkos ein neues Haushaltsgerät für ihre 46-Quadratmeter-Wohnung aus sowjetischer Zeit kaufen wollen, stottern sie den Kaufpreis per Verbraucherkredit ab. Und die beiden Söhne haben trotz abgeschlossener Ingenieurstudien keinen Job gefunden, der ihrer Qualifikation entspricht.

Gewiss hat Poroschenko auch erfolgreiche Reformen durchgesetzt - etwa im Gesundheitswesen oder bei der Dezentralisierung. Ukrainische Städte und Regionen haben heute nicht nur mehr Vollmachten, sondern auch mehr Geld. Der Haushalt von Poltawa liegt heute bei 132 Millionen Euro - sieben Mal mehr als vor acht Jahren. "Doch alle Erfolge Poroschenkos werden von der Korruption und Amtsmissbrauch überschattet", sagt Olexej Serdjukow, Chefredakteur des Poltawer Nachrichtenportals Zmist. "Poroschenko ist bei den Wählern auch deshalb so tief abgestürzt, weil er die Städte und Regionen oft fragwürdigen Clans und Lokalfürsten überlassen hat, die ihm die Stimmen für die Wiederwahl sichern sollten, doch vor allem ihre eigenen Geschäfte verfolgten."

In Poltawa verschwieg der langjährige Bürgermeister Olexander Mamai dem Stadtrat etwa, dass eine Frau, die städtische Grundstücke bekommen hatte, seine Stieftochter war. Als ein Staatsanwalt Anklage erhob, wurde der zuständigen Richterin Larissa Golnik ihrer Aussage zufolge "erst Bestechungsgeld angeboten, dann das Verfahren entzogen und der Bürgermeister schließlich freigesprochen".

Einem zur Poroschenko-Partei gehörenden einflussreichen Unternehmer erlaubte die Stadt, an der prominentesten Ausgehmeile in der einzigen Durchfahrt zu einem Wohnkomplex und Kinderspielplatz ein Café zu eröffnen. Um Fakten zu schaffen, ließ der Unternehmer die Durchfahrt von kräftigen Männern mit Eisenplatten versperren. Als der Bürgerrechtler Oleksa Koba die Aktion verhindern wollte, wurde er niedergestochen. "Der Anschlag auf mich ist zwei Jahre her, doch er ist bis heute nicht aufgeklärt", sagt Koba, der trotz elf Messerstichen überlebte.

Dem Kiewer Zentrum für Menschenrechtsinformationen zufolge wurden in der fünfjährigen Präsidentschaft Poroschenko mindestens 160 Aktivisten angegriffen und mindestens zehn ermordet. Als Poroschenko im Februar seine Unterlagen als Präsidentschaftskandidat einreichte, betrat er die Wahlkommission durch eine Hintertür: Denn vor dem Haupteingang warteten Aktivisten, die ihn fragen wollten, wer in der Region Cherson im Sommer 2018 die Bürgerrechtlerin Katarina Gandsiuk ermordet habe. Chersons Gouverneur Andrij Hordejew, von Poroschenko eingesetzt, wurde verdächtigt, an der Ermordung beteiligt gewesen zu sein - er trat zurück.

Auch in Poltawa geriet der vom Präsidenten ernannte Gouverneur ins Zwielicht. Dem Anti-Korruptions-Büro der Ukraine zufolge soll Gouverneur Walerij Golowko mit seinem Stellvertreter und weiteren Beamten für öffentliche Aufträge allein von zwei Firmen 200 000 Dollar Bestechungsgeld, Luxusurlaube in Spanien und einen Luxus-Jeep bekommen haben. Golowko bestreitet die Vorwürfe, doch Mitte März feuerte ihn Poroschenko.

Doch das half kaum mehr fürs Image: Zu diesem Zeitpunkt hatten zwei neue Skandale den Präsidenten erreicht. Poroschenkos langjähriger Vertrauter Igor Kononeko soll an millionenschweren Manipulationen im Stromsektor beteiligt sein. Und der Sohn von Oleg Gladkowskij, gleichfalls ein langjähriger Freund, soll Waffenersatzteile aus Russland geschmuggelt und der ukrainischen Armee zu zigfach über dem Marktpreisen liegenden Preisen verkauft haben.

Nicht nur Reformer, sondern auch überzeugte Nationalisten sind vom Präsidenten enttäuscht. Der Ultrarechtsnationalist Andrij Biletzkij baute für den Krieg in der Ostukraine das aus Freiwilligen bestehende Asow-Bataillon auf - und mit dem "Nationalen Korpus" auch gleich die dazu passende Partei. "In der Armee ist es allen Selbstpreisungen Poroschenkos zum Trotz immer noch so, dass Familien ihren Söhnen gute kugelsichere Westen kaufen, bevor sie an die Front müssen", sagt Anatolij Schijan, der Leiter des Nationalen Korpus in Poltawa. "Und in der Armee wird jeder dritte Grywna (Anmerkung: Das ist die ukrainische Währung) geklaut."

Seit Bekanntwerden des Skandals um die überhöhten Waffenpreise haben die Rechtsnationalisten bei jedem Wahlkampfauftritt Poroschenkos demonstriert und die Aufarbeitung des Skandals gefordert. Auch in Poltawa musste Poroschenko Sprechchöre der Ultranationalisten übertönen, als er Mitte März zum Wahlkampfauftritt in die Stadt kam.

Auch in Poltawa nutzen viele Ukrainer eine Errungenschaft der Poroschenko-Präsidentschaftszeit: Seit die EU 2017 die Visapflicht für Ukrainer abschaffte, sind Millionen Ukrainer nach Europa gereist - oft zum Geldverdienen. Allein in Polen arbeiten bis zu zwei Millionen Ukrainer; viele auch in anderen EU-Ländern, meist nur einige Monate, bevor sie in die Ukraine zurückkehren. "Unter meinen Bekannten verdienen mindestens zehn ihr Geld in Europa", sagt Olexander Schamota. Er ist seit einigen Monaten Interims-Bürgermeister von Poltawa, nachdem das alte Stadtoberhaupt Mamai aus dem Amt entlassen wurde. "Millionen Ukrainer kommen aus Europa nicht nur mit Geld zurück, sondern auch mit der Erfahrung, wie gutes Regieren wirklich aussieht. Jetzt wollen sie das Gleiche endlich auch in der Ukraine. Mit neuen Gesichtern, da sie von den alten enttäuscht sind", sagt Schamota.

Ein neues Gesicht für die Politik

Wolodymyr Selensky ist dieses neue Gesicht - freilich nur als Politiker. Seinen Aufstieg verdankt er seiner jahrelangen Präsenz im Fernsehen - sonst würde ihn kaum ein Ukrainer kennen. Auch in Poltawa hat Selensky keinen Wahlkampf im klassischen Sinn geführt, sein örtlicher Vertreter bewarb sich beim Selensky-Stab per Internet.

Der 28 Jahre alte Unternehmer Olexej Nakasnij weiß wegen der spärlichen Informationen auch kurz vor dem Wahltag noch nicht, ob er für Selensky stimmen wird. Buchhalterin Radtschenko dagegen hat ihre Entscheidung bereits getroffen. "Keine Treffen mit Wählern, blödsinnige Clips im Internet - das ist keine Art für einen Präsidentschaftskandidaten." So wollte sie am Sonntag, anders als viele ihrer Bekannten, zähneknirschend wieder für Petro Poroschenko stimmen.

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SZ vom 20.04.2019
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