Krieg in der Ukraine:Kein Bündnisfall für die Nato

Krieg in der Ukraine: 11 000 Kilometer von Polen entfernt rief Joe Biden seine Nato-Kollegen auf dem G-20-Gipfel in Bali zusammen, um zu besprechen, was zu tun ist.

11 000 Kilometer von Polen entfernt rief Joe Biden seine Nato-Kollegen auf dem G-20-Gipfel in Bali zusammen, um zu besprechen, was zu tun ist.

(Foto: Steffen Hebestreit/Bundesregierung/dpa)

Für Generalsekretär Stoltenberg deutet nach der Explosion in Polen nichts auf eine russische Rakete hin. Warschau verweist dennoch auf Verantwortung Moskaus.

Von Nicolas Freund

Die Erleichterung, aber auch die vorangegangene Anspannung waren dem Nato-Generalsekretär anzumerken: Jens Stoltenberg teilte am Mittwochmittag in Brüssel mit, es gebe keine Erkenntnisse, dass die Explosion in dem polnischen Dorf Przewodów sechs Kilometer vor der Grenze zur Ukraine von einer russischen Rakete verursacht worden war. Auch der polnische Präsident Andrzej Duda gab am Mittwoch in Warschau Entwarnung: Die Detonation sei kein gezielter Angriff auf Polen gewesen. "Wahrscheinlich war es ein unglücklicher Unfall", sagte er vor Journalisten. Zwei Menschen sind bei dem Einschlag in einem landwirtschaftlichen Betrieb getötet worden.

Der Vorfall hatte am Dienstagabend vom G-20-Gipfel auf Bali über Europa bis nach Washington für große Aufregung gesorgt. Die russische Armee hatte am Mittwoch mehr als 90 Marschflugkörper auf Ziele in der gesamten Ukraine abgefeuert. Es war einer der größten Angriffe seit Beginn des Krieges. Zunächst wurde vermutet, eine russische Rakete sei kurz hinter der Grenze in Przewodów eingeschlagen. Ob gezielt oder versehentlich, ein solcher Vorfall könnte als Angriff auf das Nato-Mitglied Polen verstanden werden und damit den Bündnisfall auslösen. Dieser besagt, dass ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle verstanden wird und zu einer entsprechenden militärischen Reaktion führen kann.

Der Westen will eine direkte Konfrontation der Nato mit Russland vermeiden

Zu Beginn des Krieges in der Ukraine war befürchtet worden, Russland könne versuchen, die Nato zu provozieren, um Spannungen in dem Verteidigungsbündnis zu erzeugen, oder sogar Polen und das Baltikum direkt angreifen. Der Westen versucht deshalb seit Beginn des russischen Angriffskrieges, eine direkte Konfrontation der Nato mit Russland zu vermeiden. Auch, weil es zum Standardrepertoire der russischen Propaganda gehört, der Nato eine militärische Bedrohung Russlands zu unterstellen.

Geschürt wurden diese Ängste vor einer Ausweitung des Krieges auf Polen und die Nato zunächst ausgerechnet durch den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij, der noch am Dienstagabend mitteilte, es seien russische Raketen gewesen, die das polnische Staatsgebiet getroffen hätten. "Je länger Russland sich straffrei fühlt, desto größer wird die Bedrohung für alle, die russische Raketen erreichen können", sagte Selenskij. In Hinblick auf eine drohende Konfrontation zwischen Nato und Russland gaben sich andere Staatschefs besonnener: Nach einer Krisensitzung beim derzeit tagenden G-20-Gipfel sagte der amerikanische Präsident Joe Biden noch in der Nacht zum Ursprung der Rakete: "Angesichts der Flugbahn ist es unwahrscheinlich, dass sie von Russland abgefeuert wurde." Die russische Armee startet ihre Marschflugkörper für Angriffe auf die Ukraine meistens von Flugzeugen, die sich im russischen Luftraum befinden, und von Schiffen im Schwarzen Meer aus. Moskau stritt sofort jede Beteiligung an dem Vorfall ab.

Am Tag danach ist noch unklar, was genau passiert ist

Wie schnell vermutet wurde und wie es Nato-Generalsekretär Stoltenberg am Mittwoch auch mitteilte, könnte es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus dem Arsenal der ukrainischen Armee und nicht um einen russischen Marschflugkörper gehandelt haben. Die Trümmer, die am Ort der Explosion gefunden wurden, sollen zu einer Rakete des sowjetischen Flugabwehrsystems S-300 passen, das sowohl von ukrainischen wie auch von russischen Streitkräften benutzt wird.

Diese Version der Ereignisse gäbe keinen dringenden Anlass, den Nato-Bündnisfall auszulösen. Sie ist auch nicht unwahrscheinlich. Ein Ziel der russischen Raketenangriffe war unter anderem die westukrainische Stadt Lwiw, die nur 70 Kilometer von der ukrainisch-polnischen Grenze entfernt liegt. Der ukrainische Generalstab teilte außerdem mit, von den etwa 90 russischen Marschflugkörpern seien 73 von der eigenen Luftabwehr abgefangen worden. Es ist gut möglich, dass eine verirrte S-300-Rakete oder die Trümmer einer oder mehrerer Raketen der Grund für die Detonation auf polnischem Staatsgebiet waren. Das spräche dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte an dem Vorfall mindestens beteiligt waren. Die russische Armee hatte in der Vergangenheit aber auch immer wieder Raketen dieses Typs nicht zur Flugabwehr, sondern für Angriffe auf ukrainische Städte eingesetzt.

Am Tag danach ist noch unklar, was genau passiert ist. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, sagte auch Stoltenberg. Der Nato-Generalsekretär, der polnische Präsident Andrzej Duda und andere betonten aber: Selbst wenn die Rakete von der ukrainischen Armee abgefeuert worden war, so war das doch eine Verteidigungsreaktion auf den massiven russischen Angriff. "Praktisch das gesamte Territorium der Ukraine stand unter Beschuss, besonders die Gebiete nahe der Grenze", sagte Duda am Mittwoch. "Deshalb trägt definitiv die russische Seite die Schuld für das, was gestern passiert ist."

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