Für Boris Pistorius geht es auch um ein Signal: Die führenden europäischen Nationen sind bereit, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen – gerade angesichts des ungewissen Kurses der neuen US-Regierung von Donald Trump. Und so ist der Bundesminister der Verteidigung nach einem Treffen der „Group of Five“, bestehend aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Polen, von Warschau über Nacht per Zug nach Kiew gereist.
Mit der weiteren Unterstützung des Westens habe die Ukraine eine reelle Chance, auf Augenhöhe „zu vernünftigen Verhandlungen irgendwann im Laufe des Jahres zu kommen“, sagte Pistorius bei seinem vierten Besuch seit Amtseintritt in Kiew. Er wolle eine Woche vor Trumps Übernahme der Amtsgeschäfte noch mal klarmachen, „dass wir in Europa, dass die Nato-Partner, an der Seite der Ukraine stehen, gerade auch jetzt in der besonders angespannten Situation“. Pistorius traf auch Präsident Wolodimir Selenskij. Dabei stellte er drei Milliarden Euro an möglichen weiteren Hilfen Deutschlands in Aussicht, falls sich Bundesregierung und Union noch vor der Bundestagswahl darauf einigen sollten. „Das ist eine Sache von Geld, was gerade nicht da ist, weil es keinen Haushalt gibt“, sagt er beim Treffen mit Selenskij. „Wir arbeiten aber daran, und ich bin optimistisch.“
Die Ukraine leidet unter Kriegsmüdigkeit
Sein erklärtes Ziel ist es, die Unterstützung insbesondere in den kritischen Winterwochen auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. So ist auch die Lieferung von weiteren Leopard-1-Kampfpanzern, von Schützenpanzern und Flugabwehr gegen Raketen- und Drohnenangriffe geplant. Denn befürchtet wird, dass Russland die nächsten Wochen für weitere Offensiven nutzen könnte. Zudem leidet die Ukraine unter Kriegsmüdigkeit, die Berichte über Desertionen und Probleme bei der Rekrutierung neuer Soldaten haben sich gehäuft. Russland soll im vergangenen Jahr fast 3600 Quadratkilometer ukrainischen Gebietes zusätzlich erobert haben, eine Fläche etwa viermal so groß wie Berlin. Bei möglichen Verhandlungen über ein Kriegsende dürfte die Frage von Gebietsabtretungen eine zentrale Rolle spielen.
Vor seiner Reise hatte Pistorius der Ukraine bereits eine neue Radhaubitze vom Typ RCH 155 übergeben. Der ukrainische Botschafter Oleksij Makejev nahm sie in Kassel, wo der Rüstungskonzern KNDS diese fertigt, als erste von geplanten 54 Radhaubitzen entgegen. Die Waffe mit einem 155-mm-Geschütz auf einem gepanzerten Radfahrzeug gilt als modernste Radhaubitze der Welt. Zunächst aber müssen ukrainische Soldaten an dem Gerät in Deutschland geschult werden. Die Lieferung wird finanziert über bereits gebilligte Hilfen, die Ukraine erhält die ersten Systeme, noch bevor die Bundeswehr selbst sie bekommt.
Scholz sieht weitere Hilfen als Sache der nächsten Bundesregierung an
Die Fünfer-Gruppe will zudem verstärkt Rüstungskooperationen mit der Ukraine aufbauen. Dabei soll die Ukraine auch durch mehr Produktion im eigenen Land in die Lage versetzt werden, möglichst aus einer Position der Stärke mit Russland verhandeln zu können. Besonders erfolgreich ist die Ukraine bisher bei der eigenen Drohnenproduktion. Helfen soll zudem ein von den G-7-Staaten genehmigter 50-Milliarden-Dollar-Kredit, der auch über Zinserlöse eingefrorener russischer Vermögen finanziert werden soll.
Begleitet wurde die Reise von der Debatte in der rot-grünen Minderheitsregierung, ob die bisher für dieses Jahr geplante Militärhilfe im Umfang von vier Milliarden Euro kurzfristig um weitere drei Milliarden Euro erhöht werden soll. Nach einer Auflistung des Verteidigungsministeriums, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, könnten mit der Aufstockung etwa drei weitere Iris-T-Luftverteidigungssysteme, Patriot-Raketen, drei Skyranger-Flugabwehrsysteme, 30 000 Schuss Artilleriemunition, 20 Schutzfahrzeuge sowie zehn Panzerhaubitzen und Drohnen gekauft werden. Weil nach dem Koalitionsbruch kein regulärer Haushalt existiert, müsste dies vor der Bundestagswahl im Haushaltsausschuss über eine überplanmäßige Ausgabe gebilligt werden – und da müsste die Union mitmachen.
Allerdings sieht Kanzler Olaf Scholz die weiteren Hilfen als Sache der nächsten Bundesregierung an, zudem stehen weitere Iris-T-Systeme kurzfristig ohnehin nicht zur Verfügung. Deshalb blockt Scholz das von den Grünen forcierte und von Pistorius auch in Kiew unterstützte Ansinnen bisher ab. Auch, weil es rechtliche Risiken birgt. So darf laut Artikel 112 Grundgesetz eine solche Sonderausgabe „nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden“.