Ukraine-Konflikt:Geheime Pläne für die Ostflanke

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg

Die Nato stehe an der Seite der "tapferen Ukrainer", sagt Jens Stoltenberg.

(Foto: JOHN THYS/AFP)

Beim virtuellen Nato-Gipfel beraten die 30 Mitglieder, wie sie auf die russischen Aggressionen reagieren sollen. Truppen für die Ukraine wird es nicht geben. Aber an der östlichen Grenze der Nato gibt es nun viel militärische Bewegung.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Zu Beginn des virtuellen Gipfels der Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Mitglieder hat Generalsekretär Jens Stoltenberg Russland vorgeworfen, "den Frieden auf dem europäischen Kontinent zerschlagen" zu haben. Die Allianz verurteile die russischen Aggressionen "auf das Allerschärfste" und stehe an der Seite "der tapferen Ukrainer", sagte Stoltenberg, der die Videokonferenz angesetzt hatte, um mit US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Kanadas Premier Justin Trudeau und den anderen Spitzenpolitikern über die längerfristigen Folgen des "brutalen"Vorgehens von Russlands Präsident Wladimir Putin zu beraten.

Es kam aber auch zu Entscheidungen mit unmittelbarer Wirkung: Zur Abschreckung Russlands verlegt die Allianz Einheiten ihrer schnellen Einsatztruppe Nato Response Force (NRF) - zum ersten Mal seit deren Bestehen. Wohin diese Truppe verlegt sollen, sagte Stoltenberg am Freitagabend nicht. Er sprach vor Journalisten nur von mehreren Tausend Soldaten, die auf dem Land, auf der See und in der Luft im Einsatz sein sollten. Die Nachrichtenagentur dpa berichtet von internen Überlegungen, Bodentruppen in das südwestlich der Ukraine gelegene Rumänien zu entsenden. Die dortige Bevölkerung steht der Nato positiver gegenüber als die Menschen in Ungarn oder der Slowakei, die ebenfalls an die Ukraine grenzen.

Am Donnerstag hatten die 30 Mitgliedstaaten hatten direkt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine beschlossen, erstmals ihre Verteidigungspläne für die östliche Flanke zu aktivieren. Dadurch hat US-General Tod Wolters, der Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte, seit Donnerstag die Möglichkeit, die Truppen schneller und ohne Rücksprache mit den Botschaftern der Mitgliedstaaten zu verlegen. Die NRF umfasst 40 000 Soldaten; von 2022 bis 2024 stellt die Bundeswehr davon etwa 13 600 Männer und Frauen. Eine Unterstützung der Ukraine durch die Entsendung von Nato-Soldaten wird jedoch weiterhin ausgeschlossen.

Die Staats- und Regierungschefs verabschiedeten zudem eine Erklärung, in der ihre Entschlossenheit zur kollektiven Verteidigung betont wird. Dort heißt es wörtlich: "Unser Bekenntnis zu Artikel 5 des Vertrags von Washington ist unerschütterlich. Wir stehen zum Schutz und zur Verteidigung aller Verbündeten zusammen." Man sichert sich zudem zu, "alle erforderlichen Maßnahmen und Entscheidungen zu treffen, um die Sicherheit und Verteidigung aller Verbündeten sicherzustellen". Alle Maßnahmen seien "präventiv, verhältnismäßig und nichteskalierend".

Die Erklärung wirft Moskau zudem eine "eklatante Ablehnung der in der Nato-Russland-Grundakte verankerten Grundsätze" vor. In dem Dokument aus dem Jahr 1997 steht unter anderem, dass sich Nato und Russland nicht als "Gegner" betrachten und es untersagt der Nato die Stationierung von Raketensystemen, schwerem militärischen Gerät und größeren Truppenverbänden in Osteuropa. Die Frage, ob die Vereinbarung nun "obsolet" sei, wollte Stoltenberg nicht beantworten. Er verwies aber darauf, dass Russland nach der illegalen Annexion der Krim 2014 nun zum zweiten Mal die Prinzipien der Grundakte verletzt habe. "Wenn nur ein Partner eine Vereinbarung einhält, dann funktioniert sie nicht", sagte der Generalsekretär.

Vor dem Videogipfel hatten mehrere Staaten angekündigt, zusätzliche Truppen und militärisches Gerät nach Ost- und Südosteuropa zu verlegen. So fliegen die USA 7000 weitere Soldaten über den Atlantik. Sie würden zunächst in Deutschland stationiert, teilte das Pentagon mit. Das US-Militär ist das leistungsstärkste der Welt und bildet das Rückgrat des Verteidigungsbündnisses.

Auch Schweden und Finnland waren eingeladen

Italien stellt 3400 zusätzliche Soldaten zur Verfügung. Bereits am Donnerstag hatte die Luftwaffe drei weitere Eurofighter-Kampfjets nach Rumänien verlegt, um dort mit Italien den Luftraum zu überwachen. Zudem soll ein Aufklärungsboot der Marine in die Ostsee auslaufen. Dem Spiegel zufolge möchte die Bundeswehr auch anbieten, eine Infanterie-Kompanie, die aus etwa 150 Soldaten mit einem guten Dutzend Boxer-Radpanzern besteht, nach Rumänien zu verlegen. Dies soll geschehen, wenn Frankreich dort die Leitung eines multinationalen Kampfverbands übernommen hat. Präsident Emmanuel Macron kündigte nach dem EU-Sondergipfel am Freitagmorgen an, zusätzliche Soldaten nach Estland zu entsenden.

In der Bundeswehr gilt es auch als denkbar, den baltischen Staaten ein Patriot-Flugabwehrraketensystem anzubieten. Nato-Missionen in der Nord- und Ostsee könnte mit jeweils einer Korvette und einer Fregatte unterstützt werden, laut Spiegel müssten diese Kriegsschiffe allerdings von anderen Missionen im Mittelmeer abgezogen werden.

Dänemark wird 200 weitere Soldaten nach Estland schicken, um den multinationalen Kampfverband des Nato-Programms "Enhanced Forward Presence" (EFP) zu verstärken. Zudem sollen zwei Kampfjets vom Typ F-16 dabei helfen, den Luftraum über Polen zu überwachen. Am Donnerstagabend gab das Parlament in Kopenhagen grünes Licht für den Plan der Regierung, der Nato bis zu 20 F-16-Flugzeuge anzubieten. Hinzu kommen eine Fregatte einschließlich Hubschrauber, ein Transportflugzeug und weiteres militärisches Personal.

Um die Geschlossenheit des Westens zu betonen, hatte Stoltenberg auch die Staats- und Regierungschefs aus Schweden und Finnland eingeladen. Deren Länder arbeiten sehr eng mit der Nato zusammen, ohne ihr anzugehören. Ebenfalls zugeschaltet waren die Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Rats, Ursula von der Leyen und Charles Michel.

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