Dafür, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij seine Reisetätigkeit wegen der schwierigen Lage daheim an der Front eigentlich einschränken wollte, kommt er momentan ziemlich viel herum in der Welt. Diese Woche zum Beispiel war er in Portugal, Spanien und Brüssel, um über die Lieferung von mehr Waffen zu reden.
Nächste Woche wird er in der Normandie erwartet, um an den D-Day-Stränden an den Feiern zum 80. Jahrestag der alliierten Invasion teilzunehmen. Im Juli steht dann Washington im Kalender. Selenskij ist Gast beim Nato-Gipfeltreffen in der amerikanischen Hauptstadt, bei dem die Staats- und Regierungschefs den 75. Geburtstag der Allianz feiern.
Öffentlichen Misstöne sollen unbedingt vermieden werden
Washington wird der zweite Nato-Gipfel sein, an dem Selenskij persönlich teilnimmt. Vor einem Jahr war er bereits in der litauischen Hauptstadt Vilnius anwesend - ein Treffen, an das sich Regierungsvertreter aus Nato-Staaten nicht mit Freude erinnern.
Im Zusammenspiel mit einigen osteuropäischen Mitgliedern des Bündnisses - darunter dem Gipfelgastgeber Litauen - versuchte Selenskij damals mittels einer Art verbalem Wutausbruch beim Kurznachrichtendienst X, der Nato eine möglichst verbindliche Beitrittseinladung an die Ukraine abzupressen. Das Vorhaben scheiterte, Deutschland stellte sich quer, vor allem aber US-Präsident Joe Biden.
Solche öffentlichen Misstöne sollen dieses Jahr unbedingt vermieden werden. Wenn in der Nato derzeit über den Gipfel gesprochen wird - etwa an diesem Donnerstag und Freitag bei einem Treffen der Außenministerinnen und -minister in Prag -, dann fällt deswegen oft das Stichwort "Erwartungsmanagement".

Krieg in der Ukraine:Stoltenberg für Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele in Russland
Der Nato-Generalsekretär fordert, die bisherigen Restriktionen zu überdenken. Die SPD und Kanzler Scholz sind dagegen. Doch auch Frankreichs Präsident sagt: Begrenzte Angriffe sind in Ordnung.
Das Ziel des Gipfels: eine klare Botschaft an Putin und den Rest der Welt
Das bedeutet: Alle Beteiligten, und damit ist Selenskij ausdrücklich mitgemeint, sollen die Erwartungen an den Gipfel lieber nicht allzu sehr in die Höhe treiben, damit deren mögliche Nichterfüllung nicht zu allzu drastischer Enttäuschung führt, oder gar zu offenem Streit. Denn schließlich ist es das Ziel des Gipfels, dass von Washington sowohl an die Ukraine, an den russischen Kriegsherrn Wladimir Putin als auch an den Rest der Welt eine klare, geschlossene Botschaft ausgeht: Die Allianz steht fest an der Seite des überfallenen Landes.
In Nato-Kreisen wird daher bereits jetzt völlig unzweideutig kommuniziert, dass die Ukraine in Washington keine Einladung zum Beitritt bekommen wird. Was dazu genau im Abschlussdokument steht, wird derzeit noch verhandelt. Aber Diplomaten glauben nicht, dass die Formulierung in der Substanz nennenswert über die von Vilnius hinausgehen wird.
Damals sagten die Nato-Regierungen Kiew zu, dass "die Ukraine ein Mitglied der Nato werden wird". Wann und unter welchen Bedingungen blieb absichtlich offen. Sollte Selenskij gehofft oder gar erwartet haben, dass er mit einem festen Beitrittstermin aus Washington heimfliegen wird, so dürfte sich das als Illusion erweisen. Bei der Nato herrscht die Erwartung vor, dass der Ukrainer das zur Kenntnis nimmt, akzeptiert und keine gegenteiligen Hoffnungen schürt.
In Zukunft soll die Nato selbst weltweit Waffen für die Ukraine besorgen
Auch andere Elemente des, wie es in Brüssel genannt wird, "Pakets" für die Ukraine, das die Nato in Washington schnüren will, sind nicht dergestalt, dass Selenskij darob in helle Begeisterung ausbrechen wird, weil sie in erster Linie den Status Quo zementieren sollen, anstatt ihn nennenswert zu verbessern. So gibt es den Plan, die Koordinierung der westlichen Waffenhilfe von der sogenannten Ramstein-Gruppe auf ein neues Nato-Gremium zu übertragen. Bisher wollte die Allianz als Organisation absichtlich nichts mit der Lieferung tödlichen Kriegsmaterials an die Ukraine zu tun haben, um Putins Lüge nicht zu füttern, Russland müsse sich in der Ukraine gegen einen Angriff der Nato verteidigen.
Dass sich das nun ändern soll, hat weniger mit der Bedrohung durch Putin zu tun als vielmehr mit der durch den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Die Ramstein-Gruppe - benannt nach dem US-Luftwaffenstützpunkt in Rheinland-Pfalz - arbeitet zwar sehr effizient, ist aber eher informell organisiert und tagt unter der Ägide des amerikanischen Verteidigungsministers.
Bei der Nato in Brüssel gibt es die Furcht, dass im Falle einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft das Pentagon kein großes Interesse mehr daran haben könnte, weltweit Waffen für die Ukraine zu besorgen. Diese Aufgabe an die Nato zu übertragen, wäre nach Angaben von Diplomaten daher eine Möglichkeit, um die Ukraine-Hilfe "wetterfest gegen Trump" zu machen.
Der Nato-Generalsekretär fordert eine von Washington unabhängige Finanzhilfe für Kiew
Ähnliches gilt für die Idee, die Finanzhilfe für die Ukraine langfristig festzuzurren, damit künftig politische Dramen wie das um das amerikanische 60-Milliarden-Dollar-Paket vermieden werden können. Dieses war voriges Jahr im US-Kongress zunächst auf Geheiß Trumps gestoppt worden. Es lag danach monatelang auf Eis, während sich die Lage an Front in der Ukraine dramatisch verschlechterte, und wurde erst in diesem Frühjahr mit großer Verspätung freigegeben, nachdem Trump doch noch seinen Segen gegeben hatte.
Vor diesem Hintergrund hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen mit 100 Milliarden Euro gefüllten Geldtopf gefordert, aus dem die Nato die Ukraine über mehrere Jahre hinweg bei Kauf von Waffen und Munition unterstützen kann - unabhängig von Trumps tagesaktuellen Launen. Etliche Nato-Regierungen fragen sich allerdings, wo diese 100 Milliarden Euro herkommen sollen.
Manche Nato-Länder haben auch vorgeschlagen, dass die Mitglieder der Allianz einen bestimmten Prozentsatz ihrer Wirtschaftsleistung zur Unterstützung der Ukraine ausgeben sollen, so wie sie sich verpflichtet haben, insgesamt mindestens zwei Prozent in die Verteidigung zu investieren.
In welcher genauen Form es diese Vorhaben am Ende in das Abschlussdokument von Washington schaffen, ist noch unklar. Dass die Allianz es aber zum 75. Geburtstag offensichtlich für nötig hält, sich und ihre Unterstützung für die Ukraine vor allem gegen einen Regierungswechsel in ihrem wichtigsten Mitgliedsland wappnen zu müssen, dürfte die Sorgen von Präsident Selenskij eher befeuern als dämpfen.