Süddeutsche Zeitung

Ukraine nach der Wahl:Hoher Einsatz für ein paar Zwischensiege

Auch nach der Wahl herrscht Chaos in der Ukraine: Der neue Präsident - gewählt in der Hoffnung auf Frieden - spricht von "Rache" und "Krieg", in Donezk wird weiter geschossen. Auf der Seite der Separatisten mischen immer mehr Söldner mit.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Der neue Präsident ist noch nicht ins Amt eingeführt, das soll am 7. Juni auf dem Maidan geschehen. Aber schon jetzt, so ist aus dem Außenministerium in Kiew zu hören, sind die Berater von Petro Poroschenko häufig dort anzutreffen, wo über den Militäreinsatz im Osten entschieden wird. Und es gibt viel zu reden, viel zu entscheiden; die Sache läuft nicht gut.

Am Freitag teilte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit, ein zweites Team ihrer Beobachtermission in der Ostukraine sei entführt worden. Von einem ersten, das seit Montag von Separatisten festgehalten wird, fehlt ebenfalls noch jede Spur. In Donezk wird weiter geschossen, auch wenn der Flughafen, den die Separatisten zeitweilig eingenommen hatten, wieder frei ist. Immer mehr Einwohner verlassen die Stadt, im Zentrum bauen die pro-russischen Milizen neue Barrikaden. Bei Slawjansk war am Donnerstag ein ukrainischer Armee-Hubschrauber abgeschossen worden; die Bilanz: zwölf Tote. Am Freitagmorgen berichtet der Sprecher der "Anti-Terror-Operation", dass in Slawjansk die Separatisten mittlerweile auch Wohngebiete beschießen würden.

Poroschenko hat "Rache" geschworen. Der Präsident, der am Sonntag mit großer Mehrheit in der Hoffnung gewählt wurde, dass er Frieden bringt, spricht vom Krieg. Und die jüngsten Entwicklungen sprechen dafür, dass er recht hat: Die Nato meldet zwar, dass etwa zwei Drittel der russischen Soldaten die Grenzregion zur Ukraine verlassen hätten. Dafür aber scheinen immer mehr Söldner aus dem Kaukasus mit Kampferfahrung in Tschetschenien und Ossetien über die russisch-ukrainische Grenze zu sickern; sie kommen in Lastwagen, auf denen sich Waffen türmen, und niemand hält sie auf. Ein hochrangiger Mitarbeiter des Kiewer Außenministeriums erklärt, wie das geht: Die lange Grenze sei weitgehend ungesichert; wenn russische Milizionäre ungesehen in die Ukraine eindringen wollten, sei das über Felder oder Nebenstraßen problemlos möglich. Einige dieser Männer haben sich gegenüber westlichen Medien regelrecht damit gebrüstet, dem "Wostok"-Bataillon anzugehören, das überwiegend aus russischen Staatsbürgern bestehen soll. Unter ihnen sind zahlreiche Söldner, die angaben, sie seien im Auftrag von Ramsan Kadyrow, dem moskautreuen Tschetschenen-Chef, in der Ukraine. Kadyrow bestreitet den Einsatz seiner Landsleute nicht, gibt aber an, das sei ihre "persönliche Entscheidung".

Kiew denkt sogar darüber nach, Blauhelmsoldaten abzuziehen und an die Heimatfront zu schicken

US-Außenminister John Kerry äußerte sich, ebenso wie sein deutscher Kollege Frank-Walter Steinmeier, äußerst besorgt über das Einsickern "ausländischer Kämpfer", deren Existenz Moskau aber weiter bestreitet. Gleichwohl haben Mitglieder des Wostok-Bataillons offenbar am Donnerstag die Macht im Hauptquartier der "Autonomen Volksrepublik Donezk" übernommen. Damit sollen offenbar Disziplinlosigkeit und Plünderungen durch die ursprünglichen Besetzer der Oblast-Verwaltung unterbunden - und die strategische Kontrolle über die Region verstärkt werden. Die selbsternannten Führer der Volksrepublik Donezk teilten zwar mit, sie seien weiter im Amt - aber dafür gab es am Freitag genauso wenig eine Bestätigung wie für Gerüchte, wonach die Wostok-Kämpfer schon wieder abgezogen seien.

So oder so, seit der Präsidentenwahl vom Sonntag haben beide Seiten - die pro-russischen Separatisten im Osten und die unterschiedlichen Formationen, die auf Regierungsseite kämpfen - ihren Einsatz noch einmal massiv erhöht. Reguläre Armee, Nationalgarde und Freiwilligen-Bataillone kämpfen in den Bezirken Donezk und Lugansk; aber weil die ukrainischen Soldaten schlecht ausgebildet und ausgerüstet sind, greift die Regierung in Kiew, so will es scheinen, zu verzweifelten Mitteln.

Ein Sprecher forderte erneut junge Patrioten auf, sich freiwillig zu melden und bat die Bevölkerung, für die darbende Armee zu spenden. Es wird auch überlegt, ukrainische UN-Blauhelme von ihren internationalen Einsätzen zurückzuziehen und an die Heimatfront zu schicken. Und das quasi-militärische Donbass-Bataillon, das überwiegend aus Einwohnern von Lugansk und Donezk besteht, soll nach einer kurzen Schulung im Ausbildungszentrum der Armee in Novi Petrivzi, wieder an die Front zurückkehren - dann als offizieller Teil der Nationalgarde.

Der ukrainische Verteidigungsminister Michail Kowal lobte die Regierungstruppen am Freitag in Kiew und sagte, diese hätten die prorussischen Milizen "vollständig" aus "Teilen" der Ostukraine vertrieben. Aber "vollständig" ist wohl Wunschdenken, denn er räumte auch ein: Nur Teile der Region Donezk sowie der Norden der Region Lugansk seien unter der Kontrolle der ukrainischen Armee. Der Anti-Terror-Einsatz werde aber so lange weitergeführt, "bis das normale Leben wieder Einzug in der Region hält", fügte Kowal hinzu. Seit dem Beginn der Militäroffensive Mitte April sollen schon mehr als 200 Menschen gestorben sein, neben ukrainischen Soldaten und Aufständischen auch Zivilisten.

"Wir können nicht vorgehen wie Putin in Grosny"

In der Regierung in Kiew, so ist aus unterschiedlichen Quellen zu hören, gibt es nach wie vor sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie gegen die Separatisten vorzugehen ist. Ein Kabinettsmitglied sagt, die militärischen Erfolge mehrten sich, nachdem Armee und Nationalgarde anfangs eine Niederlage nach der anderen kassiert hätten - "ganz einfach, weil wir mehr Erfahrung sammeln und besser werden. Das müssen wir gegen diese Banditen nutzen." Ein hochrangiger Diplomat aus dem Außenministerium hingegen sagt, es gebe immer nur "Zwischensiege", und der ukrainischen Armee seien die Hände gebunden. "Wir können nicht vorgehen wie Putin in Grosny". Die einzige Chance gegen den offenen russischen Informationskrieg und die verdeckte russische Intervention sei, den "Status quo einzufrieren". Es gelte, die Separatisten in den von ihnen besetzten Zonen regelrecht zu belagern - und dann der Bevölkerung die Wahl zu geben: mit uns, mit der Ukraine - oder gegen uns, für Zerfall, Niedergang, Hooliganismus.

Wahlsieger Poroschenko sieht das offenbar anders, zumindest offiziell. "Wir müssen alles dafür tun, dass keine Ukrainer mehr durch die Hände von Terroristen und Banditen sterben", sagt er. Die "kriminellen Akte der Feinde des ukrainischen Volkes" würden nicht ungestraft bleiben. Zugleich rückt seine Ankündigung, baldmöglichst Kremlchef Putin zu treffen, in weitere Ferne. Vorerst, so ist zu hören, sei kein konkreter Termin geplant.

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SZ vom 31.05.2014/mike
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