Militärische Lage in der Ukraine:Die überraschende Mitteilung aus Moskau

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Sergei Rudskoi (mitte), erster stellvertretender Generalstabschef, war der erste höhere russische General, der sich zum Verlauf der sogenannten "Spezialoperation" äußerte. (Foto: IMAGO/Vadim Savitsky/IMAGO/ITAR-TASS)

Man wolle sich auf die "Befreiung" des Donbass konzentrieren, erklärt das Verteidigungsministerium. Eine Reaktion darauf, dass die Invasoren es nicht schaffen, die großen Städte einzunehmen? Nicht nur in Kiew werden sie zurückgedrängt. Selbst Cherson ist wieder umkämpft.

Von Andrea Bachstein und Sebastian Gierke, München

Während in Brüssel die Spitzen von Politik und Militär Antworten suchen auf Russlands Überfall auf die Ukraine, kämpfen Verteidiger und Angreifer dort um jedes Stück Terrain. Die Ukrainer ringen besonders um bereits weitgehend zerstörte Orte rund um die Hauptstadt Kiew und haben dort nach eigenen Angaben etwas Boden gutgemacht. Das bestätigte der britische Militärgeheimdienst ebenso wie Vertreter des US-Verteidigungsministeriums.

Eine gute, wenn auch kleine Nachricht am Rande war, was die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk am Freitagmorgen veröffentlichte: Am Vortag sei ein Gefangenenaustausch erfolgt, zehn Ukrainer und zehn Russen seien wieder bei ihren jeweiligen Truppen. Ebenso seien zivile Seeleute beider Seiten ausgetauscht worden.

Aufhorchen ließ vor allem, was das Moskauer Verteidigungsministerium dann am Freitag mitteilte: Die russischen Streitkräfte konzentrieren sich nun auf die völlige "Befreiung" des Donbass, also der Region im Osten der Ukraine, in der die von Separatisten eingenommenen "Volkrepubliken" Luhansk und Donezk liegen. Allerdings schließe man nicht aus, "verbarrikadierte ukrainische Städte zu stürmen", so das russische Verteidigungsministerium laut der russischen Agentur Interfax. Für die "Spezialoperation" habe das Ministerium zwei Optionen erwogen: entweder innerhalb der Separatistengebiete im Donbass oder in der gesamten Ukraine. Mit Sergei Rudskoi äußerte sich erstmals einer der höheren russischen Generäle zum militärischen Vorgehen und dem Verlauf. Rudskoi ist erster stellvertretender Generalstabschef.

Ob die Ansage aus Moskau einen Verzicht auf die ursprünglichen Kriegsziele des Kremlchefs Wladimir Putin einleitet, muss sich erst zeigen. Der Verzicht darauf, die Ukraine weitgehend kontrollieren zu wollen, ist daraus noch nicht ablesbar. An der Botschaft, die der russische Präsident Wladimir Putin seit Wochen ständig wiederholt, rüttelte Rudskoi nicht: Die "Spezialoperation" laufe exakt nach Plan, es gehe um die "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung", man nehme Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.

Angesichts des großen ukrainischen Widerstandes und den Probleme der russischen Streitkräfte, selbst bereits vermeintlich unter Kontrolle gebrachtes Gebiet zu halten, scheint es aber so zu sein, dass Moskau zumindest für den Moment seine Rhetorik den Realitäten anpasst. Die Mitteilung passt jedenfalls zu der Einschätzung, die das US-Verteidigungsministerium zuvor über die militärische Großlage abgegeben hatte, unter Berufung auf einen seiner wie immer nicht genannten Beamten: Es gelinge den russischen Streitkräften nach wie vor nicht, die großen Städte einzunehmen, während das ukrainische Militär es schaffe, einige Stellungen zurückzuerobern.

Sogar das strategisch wichtige Cherson ist demnach wieder "umkämpftes Gebiet". Cherson im Süden, an der Mündung des Dnjepr, war die erste ukrainische Großstadt, die die russischen Streitkräfte unter Kontrolle bringen konnten. Jetzt allerdings geraten sie hier durch ukrainische Gegenschläge in die Defensive. Aus dem US-Verteidigungsministerium heißt es, das russische Militär habe keine so feste Kontrolle mehr über die Stadt wie zuvor.

Die Russen hatten nach der Einnahme Chersons die Großstadt Mykolajiw nordwestlich davon attackiert, doch auch dieser Angriff konnte in den vergangenen Tagen an einigen Stellen zurückgeschlagen werden. Eine Bodenoffensive in Richtung der Hafenstadt Odessa scheint damit im Moment für die Invasoren nicht möglich zu sein.

Russische Truppen im Osten und Nordosten von Kiew zurückgedrängt

Ihren Kampfeinsatz im Osten der Ukraine hätten die Russen aber erhöht. Dazu teilte das ukrainische Verteidigungsministerium mit, russische Truppen hätten teilweise eine Landbrücke von der Region Donezk bis zur 2014 annektierten Halbinsel Krim geschaffen.

Die Befunde des britischen Militärgeheimdienstes vom Freitag fügen sich in dieses Bild. Was die Lage rund um Kiew betreffe, seien die russischen Truppen im Osten und Nordosten zurückgedrängt worden, sie stünden nun in 55 Kilometer Entfernung, am Dienstag seien es noch 25 bis 30 Kilometer gewesen. Man erkenne auch keine weiteren Vorstoßversuche.

Dieses Zurückweichen ist nach britischer Einschätzung einer der stärksten Hinweise auf eine Veränderung der Kriegsdynamik und habe mit "überdehnten" Nachschublinien zu tun, wie es im Militärjargon heißt, wenn die Versorgung nicht mehr funktioniert. Aus dem Pentagon kam die Aussage, die russischen Truppen hätten begonnen, sich nordwestlich der Hauptstadt in Verteidigungsstellungen einzugraben.

Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte auch mit, man habe am späten Donnerstagabend ein großes Tanklager außerhalb Kiews zerstört, und zwar mit Marschflugkörpern vom Typ Kalibr, abgefeuert von See aus. Diese Treffer müssen nicht notwendigerweise der Einschätzung von US-Experten widersprechen, dass das russische Militär trotz seiner Kapazitäten und extrem zerstörerischer Raketen- und Artillerieattacken auf Städte nicht so vorankommt wie gedacht, weil mehr als die Hälfte der russischen Präzisionsraketen nicht zu Treffern führten. Diese Erklärung gaben drei US-Vertreter, die anonym bleiben wollten, der Agentur Reuters.

Drama in Mariupol dauert an

Bei von Flugzeugen abgefeuerten Marschflugkörpern gilt Fachleuten zufolge eine Ausfallrate von 20 Prozent bereits als hoch. Die US-Vertreter sagten unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, dass je nach Raketentyp und Tag diese Rate bei den Russen in der Ukraine bei bis zu 60 Prozent liege.

Das Drama des eingeschlossenen Mariupol dauerte an. Busse für die Flucht von Zivilisten standen erst gut 70 Kilometer entfernt bei Berdjansk bereit, wie Vizeregierungschefin Wereschtschuk per Video mitteilte. Aus Mariupol selbst berichtete die Stadtverwaltung, man müsse davon ausgehen, dass bei dem Angriff vergangene Woche auf das Theater der Stadt, in dem sich 1000 Menschen befunden hatten, etwa 300 Menschen getötet worden seien.

Erstmals seit Wochen gab Moskau am Freitag seine Verluste wieder an: Bisher seien 1351 russische Soldaten umgekommen und 3825 verletzt worden, berichtete Interfax unter Berufung auf das Verteidigungsministerium.

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