Ukraine:Häftlinge reichen nicht

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij zeichnet einen Soldaten aus. (Foto: Handout/AFP)

Um dringend benötigtes Personal für den Krieg zu gewinnen, dürfen auch ukrainische Verurteilte an die Front. Das Problem ist damit aber nicht gelöst. Deshalb tritt jetzt ein verschärftes Meldegesetz für alle ukrainischen Männer in Kraft.

Von Florian Hassel, Belgrad

Es ist ein Umschwung in der Not: Auch ukrainische Häftlinge dürfen sich nach einer Gesetzesänderung zum Dienst an der Front melden. Freilich gilt dies nicht für Mörder, Terroristen oder Häftlinge, die wegen massiver Korruption verurteilt wurden. Zudem muss ein Gericht ebenso zustimmen wie ein ukrainischer Kommandeur. So dürften tatsächlich bestenfalls 10-20 000 Häftlinge aus überfüllten Gefängnissen an die Front wechseln, so der Justizminister im Ukraine-Dienst der BBC.

Mehr Männer einzuziehen, ist für die Ukraine überlebenswichtig. Nach Einschätzung des Kommandeurs der ukrainischen Bodentruppen ist Russland um das Zehnfache überlegen. Der Einsatz von Häftlingen aber dürfte die lange verschleppte Mobilisierung ebenso wenig entscheidend beschleunigen wie ein verschärftes Mobilisierungsgesetz, das an diesem Samstag in Kraft tritt.

Neue Pässe gibt es nur noch gegen aktualisierte Meldedaten

Das neue Gesetz bestimmt, dass alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren Daten wie Aufenthaltsort, E-Mail, Telefonnummer und Tauglichkeitsstatus innerhalb von 60 Tagen aktualisieren müssen: etwa in Wehrämtern oder - für die bis zu 860 000 allein in der EU lebenden Ukrainer - in Konsularabteilungen der Botschaften. Wer dies nicht tut, dem drohen in der Ukraine scharfe Sanktionen.

Im Ausland sollen Konsularleistungen wie die Ausgabe neuer Pässe nur noch denjenigen Männern geleistet werden, die ihre erneuerten Meldedaten nachweisen können. Sowohl in der Ukraine als auch vor ukrainischen Konsulaten bildeten sich schon im April teils lange Schlangen, um noch vor Inkrafttreten des Gesetzes neue Dokumente zu beantragen oder um der erneuerten Meldepflicht nachzukommen.

Theoretisch sind die Schlangen überflüssig: Denn ab dem 18. Mai soll ein elektronisches Meldesystem im Internet verfügbar sein, auf dem alle ukrainischen Männer ihre Daten online aktualisieren können. In der Realität aber arbeitet das System mindestens im ersten Monat nur im Testbetrieb - und ob es ab Juni uneingeschränkt funktioniert, wie der Sprecher des Verteidigungsministeriums im April versprach, ist offen. Unklar ist, ob im Ausland lebende Ukrainer gleichwohl in die Ukraine zurückkehren sollen.

Eliteeinheiten müssen die Löcher an der Front stopfen

Verteidigungsministeriumssprecher Dmytro Lasutkin zufolge soll die aktualisierte elektronische Meldung ausreichen, sagte er im April Radio Swoboda. Zu den neuen Mobilisierungsmaßnahmen aber gehört auch, dass alle Männer, die noch nie oder vor langer Zeit gemustert oder für "bedingt tauglich befunden wurden, sich ab Mitte Mai Militärärzten vorstellen müssen, wie Vize-Verteidigungsminister Iwan Hawryljuk am 12. April auf einer Konferenz beschrieb.

Und diese Musterung, die einem von der SZ interviewten Mann zufolge etwa in Kiew bis zu zwei Wochen dauert und bei der bis zu 18 verschiedene Ärzte beteiligt sind, ist nur in der Ukraine möglich. Dafür dürfte kaum ein Ukrainer zurückkehren - erst recht nicht, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz und Vertreter Ungarns sowie Estlands klargemacht haben, sie würden auch wehrpflichtige Ukrainer nicht ausliefern.

Ukrainische Militärführer machten etwa im Infodienst NV keinen Hehl aus dem dramatischen Mangel an Soldaten. Jewhen Dykyj kritisierte, dass in Kiew und anderen weit von der Front entfernten ukrainischen Städten "keine Mobilisierung stattfindet". Ex-Oberst Roman Kostenko, heute Sekretär des Verteidigungsausschusses im Parlament, sprach von "zusammengebrochener Mobilisierung", wegen der die Ukraine etliche Positionen verloren habe. Ex-Generalmajor Serhij Krywonos sagte, wegen des dramatischen Mangels an Infanterie müssten nun Eliteeinheiten die Löcher an der Front stopfen - und erlitten dramatische Verluste.

Selenskij scheut eine umfassende Mobilisierung

Die Zahl der russischen Soldaten in der Ukraine wird auf 510 000 geschätzt; dazu zieht Moskau monatlich Zehntausende neu in die Armee ein. Die Ukraine zählt dem Londoner Institut für strategische Studien zufolge 800 000 Soldaten. Doch nur 200-300 000 Soldaten waren je an der Front, so Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am 9. Februar im Fernsehen. Präsident Wolodimir Selenskij zufolge sind bis Februar 2024 rund 31 000 Ukrainer gefallen, doch Indizien deuten an, dass es tatsächlich mehr als 100 000 Tote und bis zu mehrere Hunderttausend Verletzte sein dürften.

Der damalige oberste General Walerij Saluschnyj sagte im vergangenen Herbst, die Ukraine müsse 2024 nach und nach eine halbe Million Männer einberufen und ausbilden. Die jetzt anstehenden Einberufungen und Zeitverträge dürften indes nicht einmal in die Nähe dieser Zahl kommen. Zwar will Kiew bis Ende Juli 32 neue Rekrutierungszentren eröffnen. Selbst dann würden monatlich höchstens 5000 neue Soldaten unterschreiben, so Vize-Verteidigungsminister Hawryljuk.

Der vor unpopulären Entscheidungen zurückschreckende Selenskij aber ist zu einer umfassenden Mobilisierung nicht bereit. Kiews Alliierte sind irritiert, dass die Ukraine Männer nicht ab 18 Jahren an die Front schickt, sondern bisher erst ab 27 Jahren. Als das Parlament im Sommer 2023 das Wehralter von 27 auf 25 Jahre absenkte, unterschrieb Selenskij es erst fast ein Jahr später. Die Absenkung wird Schätzungen zufolge bestenfalls 100.000 junge Ukrainer zusätzlich in die Armee bringen.

US-Senator Lindsay Graham forderte bei einem Treffen mit Selenskij im März eine umfassende Mobilisierung. "Ihr seid in einem Kampf ums Überleben, also solltet ihr kämpfen, und nicht erst mit 25 oder 27 Jahren", mahnte Graham in Kiew vor Reportern. Selenskijs Präsidialapparat überging in seiner Meldung über das Treffen diese zentrale Forderung.

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