Der Westen hätte gewarnt sein können. In anderen Gegenden der Welt erlebt die Geopolitik schon seit längerer Zeit eine Renaissance. Russlands Syrien-Politik zum Beispiel folgt ebenfalls ihren Regeln: Moskau stützt den Menschenschinder Baschar al-Assad, weil es über ihn Einfluss - genauer: Störpotenzial - hat im Nahen Osten. Zudem gibt es im syrischen Tartus einen russischen Militärhafen. Syrien ist auf der politischen Landkarte in der gleichen Farbe wie Russland eingezeichnet - aus Sicht eines Geopolitikers ein Sieg.
Der Nahe Osten ist geopolitische Rivalitäten seit den Kreuzzügen gewöhnt. In der Kolonialzeit wurden dort Gebiete abgesteckt, ebenso während des Kalten Krieges. Doch der Aufruhr in der arabischen Welt hat die Konflikte befeuert. Die alten, nach dem Ersten Weltkrieg von Westlern gezogenen Grenzen lösen sich auf, die Neuordnung wird blutig ausgekämpft, besonders fürchterlich in Syrien. Die schiitische Regionalmacht Iran nutzt die religiösen Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten, um ihre strategisch wichtige Landverbindung nach Libanon über den Irak und Syrien abzusichern. Saudi-Arabien und Katar, Schutzmächte der Sunniten, fachen die religiösen und ethnischen Feuer an, um Irans Macht zu brechen.
Auch Asien denkt wieder geopolitisch. China hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem um seinen wirtschaftlichen Aufstieg gekümmert, ernsthafte territoriale Ansprüche erhob es nur auf Taiwan und Tibet, wo der Status quo aber ohnehin zementiert war. Doch nun macht Peking im Süd- und Ostchinesischen Meer lautstark und militärisch Gebietsforderungen geltend. Es trifft dabei auf ein kaum weniger aggressives und nationalistisch berauschtes Japan. Bisher gingen die Streitereien um Luftraum und Inseln, unter denen Rohstoffe vermutet werden, glimpflich ab. Aber es gibt keine Garantie, dass daraus nicht noch ein Krieg entsteht.
Im Westen treffen diese neuen geopolitischen Ambitionen auf zwei Reaktionen. Zum einen: Unverständnis. Der Westen hat sich angewöhnt, Institutionen und Verträge (gelegentlich auch Werte) für wichtiger im Umgang zwischen Staaten zu halten als Geografie. Wie gut ein Land die Phänomene Globalisierung und Digitalisierung wirtschaftlich und gesellschaftlich meistert, entscheidet aus westlicher Sicht über seinen Rang in der Welt - mehr als der Besitz eines eisfreien Hafens. Denn was will Putin eigentlich mit einem Kriegshafen in Syrien? Sollen russische Fregatten das Oligarchengeld in Zypern beschützen? Zur Krim könnte man ähnliche Fragen stellen.
Zum anderen: Müdigkeit. Der Westen hat das teure geopolitische Spiel satt. Das gilt für Europa, vor allem aber für die alte Ordnungsmacht Amerika. Gut die Hälfte der Amerikaner sind der Meinung, die USA sollten sich endlich weniger um die Probleme in Übersee kümmern. US-Präsident Barack Obama, beileibe kein Geopolitiker, hat den aufgeschreckten Verbündeten zwar versprochen, Chinas Ausgreifen im Pazifik zu kontern. Doch der angekündigte strategische "Schwenk" Amerikas nach Asien fiel bisher halbherzig aus. Ein paar Reden, ein paar Marineinfanteristen, die nach Australien verlegt werden sollen. Dämmt man so China ein? Kaum.
Europa und Amerika zögern. Die neuen Mächte bedienen sich der groben Raubrittermethoden des 19. Jahrhunderts, der Westen wehrt sich mit den feinen Waffen des 21. Jahrhunderts: Kontosperrungen und Einreiseverbote. Zurück ins Herz der Finsternis will niemand reisen.