Ukraine-Krise:Die Geopolitik ist zurück - und mit ihr die Angst

Ukraine-Krise

Prorussischer Separatist in der Ukraine, nahe Slawjansk.

(Foto: dpa)

Es war eine naive Hoffnung: Die Geopolitik, das Streben nach Herrschaft über Raum, schien passé. Nun erlebt sie ihre Renaissance. Russlands Vorgehen in der Ukraine ist nur ein Beispiel.

Ein Kommentar von Hubert Wetzel

In seiner Erzählung "Herz der Finsternis", geschrieben 1899, schildert Joseph Conrad diese Szene: Ein Brite blickt auf eine Karte von Afrika. "Eine Menge Rot" ist da zu sehen, "was immer ein erfreulicher Anblick ist", aber auch "verteufelt viel Blau, ein wenig Grün, Orangekleckse, und an der Ostküste ein purpurner Fleck, um anzuzeigen, wo die lustigen Pioniere des Fortschritts ihr lustiges Lagerbier trinken". In der Mitte prangt ein gelber Fleck. Dorthin reist er und begegnet dem Grauen.

Die Welt in Farbkleckse aufzuteilen war lange Zeit üblich. Ein Land war umso mächtiger, je mehr Territorium es beherrschte. Staaten eroberten Kolonien und damit Siedlungsgebiete, Rohstoffe, Absatzmärkte und nationales Prestige. Sie bauten Festungen an fernen Küsten, um Handelsrouten zu kontrollieren. Später stürzten oder stützten sie fremde Regierungen, um ideologische Einflusssphären zu verteidigen. Und sie verleibten sich angrenzende Gebiete ein und schufen so schützende Pufferzonen. Welche Farbe ein Stück Land auf der Karte hatte, war jahrhundertelang von entscheidender Bedeutung - Anlass für Krisen und Kriege.

Staaten streben wieder nach Landgewinn. Wozu eigentlich?

Vielleicht war es naiv zu glauben, mit dem Kalten Krieg sei auch die Ära der Geopolitik - das Streben nach Herrschaft über Raum - zu Ende gegangen. Aber es gab hoffnungsvolle Zeichen. Die mörderische Rivalität zwischen West und Ost war vorbei. Es gab große Staatenkonferenzen, um die großen Probleme der Menschheit zu lösen: Hunger, Aids, Völkermord, Klimawandel. Dem Recht sollte Vorrang vor der Stärke gegeben werden. Und es schien sich die Einsicht durchzusetzen, dass das alte geopolitische Nullsummenspiel überholt war, nach dessen Regeln ein Flecken Land immer nur eine Farbe haben konnte, der Gewinn der einen Seite also der Verlust der anderen Seite sein musste. Und in der Tat erscheint diese Sichtweise absurd in einer Welt, in der virtueller Raum oft wichtiger ist als der reale, in der Waren- und Geldströme keine Grenzen mehr kennen, ebenso wenig wie Terroristen, die ja nicht Gebiete besetzen und halten, sondern nur Angst verbreiten wollen.

In Europa war diese Hoffnung auf eine neue Zeit besonders groß. Deshalb ist jetzt auch der Schock so enorm, den Russlands Landraub in der Ukraine ausgelöst hat. Nach zwei heißen Kriegen und einem kalten, die Europa verheert und zerrissen haben, in denen die Völker um Land rangen, um sich aus vermeintlicher Einkreisung zu befreien oder "Lebensraum" zu erobern, ist die Geopolitik nach Europa zurückgekehrt. Und mit ihr die Angst.

Es gibt keine andere vernünftige Erklärung für das, was Moskau mit der Ukraine macht, als Geopolitik. Und nach deren Regeln verhält sich Russland logisch: All die Vasallen- und Pufferstaaten, die zur Sowjetzeit auf der Karte einen roten Wall an Russlands Westgrenze bildeten, sind heute blau eingefärbt - blau wie die Flaggen von EU und Nato. Die Ukraine ist nach dieser Sicht eines der letzten Bollwerke gegen den Westen, dazu liegt auf der Krim - unter Geopolitikern schon immer ein begehrter Fetzen Land - der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Dieses Bollwerk gedenkt Wladimir Putin, ein Geostratege reinsten Wassers, zu verteidigen - rabiat, völkerrechtswidrig, zu jedem Preis. Mag der Rubel fallen, über Sewastopol weht die russische Trikolore.

Feine Waffen gegen Raubrittermethoden

Der Westen hätte gewarnt sein können. In anderen Gegenden der Welt erlebt die Geopolitik schon seit längerer Zeit eine Renaissance. Russlands Syrien-Politik zum Beispiel folgt ebenfalls ihren Regeln: Moskau stützt den Menschenschinder Baschar al-Assad, weil es über ihn Einfluss - genauer: Störpotenzial - hat im Nahen Osten. Zudem gibt es im syrischen Tartus einen russischen Militärhafen. Syrien ist auf der politischen Landkarte in der gleichen Farbe wie Russland eingezeichnet - aus Sicht eines Geopolitikers ein Sieg.

Der Nahe Osten ist geopolitische Rivalitäten seit den Kreuzzügen gewöhnt. In der Kolonialzeit wurden dort Gebiete abgesteckt, ebenso während des Kalten Krieges. Doch der Aufruhr in der arabischen Welt hat die Konflikte befeuert. Die alten, nach dem Ersten Weltkrieg von Westlern gezogenen Grenzen lösen sich auf, die Neuordnung wird blutig ausgekämpft, besonders fürchterlich in Syrien. Die schiitische Regionalmacht Iran nutzt die religiösen Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten, um ihre strategisch wichtige Landverbindung nach Libanon über den Irak und Syrien abzusichern. Saudi-Arabien und Katar, Schutzmächte der Sunniten, fachen die religiösen und ethnischen Feuer an, um Irans Macht zu brechen.

Auch Asien denkt wieder geopolitisch. China hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem um seinen wirtschaftlichen Aufstieg gekümmert, ernsthafte territoriale Ansprüche erhob es nur auf Taiwan und Tibet, wo der Status quo aber ohnehin zementiert war. Doch nun macht Peking im Süd- und Ostchinesischen Meer lautstark und militärisch Gebietsforderungen geltend. Es trifft dabei auf ein kaum weniger aggressives und nationalistisch berauschtes Japan. Bisher gingen die Streitereien um Luftraum und Inseln, unter denen Rohstoffe vermutet werden, glimpflich ab. Aber es gibt keine Garantie, dass daraus nicht noch ein Krieg entsteht.

Im Westen treffen diese neuen geopolitischen Ambitionen auf zwei Reaktionen. Zum einen: Unverständnis. Der Westen hat sich angewöhnt, Institutionen und Verträge (gelegentlich auch Werte) für wichtiger im Umgang zwischen Staaten zu halten als Geografie. Wie gut ein Land die Phänomene Globalisierung und Digitalisierung wirtschaftlich und gesellschaftlich meistert, entscheidet aus westlicher Sicht über seinen Rang in der Welt - mehr als der Besitz eines eisfreien Hafens. Denn was will Putin eigentlich mit einem Kriegshafen in Syrien? Sollen russische Fregatten das Oligarchengeld in Zypern beschützen? Zur Krim könnte man ähnliche Fragen stellen.

Zum anderen: Müdigkeit. Der Westen hat das teure geopolitische Spiel satt. Das gilt für Europa, vor allem aber für die alte Ordnungsmacht Amerika. Gut die Hälfte der Amerikaner sind der Meinung, die USA sollten sich endlich weniger um die Probleme in Übersee kümmern. US-Präsident Barack Obama, beileibe kein Geopolitiker, hat den aufgeschreckten Verbündeten zwar versprochen, Chinas Ausgreifen im Pazifik zu kontern. Doch der angekündigte strategische "Schwenk" Amerikas nach Asien fiel bisher halbherzig aus. Ein paar Reden, ein paar Marineinfanteristen, die nach Australien verlegt werden sollen. Dämmt man so China ein? Kaum.

Europa und Amerika zögern. Die neuen Mächte bedienen sich der groben Raubrittermethoden des 19. Jahrhunderts, der Westen wehrt sich mit den feinen Waffen des 21. Jahrhunderts: Kontosperrungen und Einreiseverbote. Zurück ins Herz der Finsternis will niemand reisen.

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