Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Arm und stolz und blutend

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Mit großem Pomp feiert das Land seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion vor 30 Jahren - und versucht trotzig, seine von Russland annektierten Gebiete zurückzubekommen. Doch Kremlchef Putin schafft längst Fakten.

Von Florian Hassel, Warschau

Es war eine Parade, wie Kiew sie lange nicht gesehen hat. Gut 5000 Soldaten, neue Panzer, neue Raketen, 100 Flugzeuge - die ukrainische Armee zeigte zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung von der Sowjetunion stolz ihre modernen Waffen. Denn, so Präsident Wolodimir Selenskij, die Ukrainer sollten auch sehen, wofür das Land die ständig wachsenden Ausgaben für das Militär verwende.

Die Parade auf Kiews Prachtstraße Kreschtschatik war am Dienstag nur eine von mehreren Militärparaden. Selenskij und andere Politiker begingen den Unabhängigkeitstag auch mit einer Feierstunde in der Rada, dem ukrainischen Parlament. Kiews Einwohner konnten unter etlichen weiteren Feiern wählen, unter anderem einem Marathonkonzert mit 34 ukrainischen Musikern, Schauspielern, einer Lichtshow und abschließendem Feuerwerk.

Vor allem bei jungen Ukrainern ist die Zustimmung zu ihrem ebenfalls noch jungen Land groß - jedenfalls wenn sie in Kiew oder der westlichen Ukraine leben. Seit dem Euromaidan 2014, bei dem der moskaunahe Präsident Wiktor Janukowitsch gestürzt wurde, erlebe die Ukraine eine kulturelle Wiedergeburt, sagte der Historiker Jaroslaw Hritsak in der Kyiv Post.

Die Ukraine ist eines der ärmsten Länder Europas. Doch vier Fünftel der Ukrainer würden allen Widrigkeiten zum Trotz wieder die Unabhängigkeit von Moskau erklären, stünde diese Entscheidung erst heute an, so eine Umfrage der Agentur Rating (die freilich Einwohner der von Russland besetzten Krim und der unter Moskauer Kontrolle stehenden Gebiete um Donezk und Lugansk nicht einschloss). Immerhin 15 Prozent aber würden dies nicht tun, der Rest tat sich mit der Antwort schwer. Und ein Fünftel der Bürger sehen sich auch drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion nicht als Ukrainer, sondern weiter als "sowjetische Menschen", vor allem im Osten des Landes.

Ein fast vergessenes Thema

Die Feiern ändern nichts daran, dass die Ukraine ein gespaltenes Land ist: gespalten durch Russland, das sich unter Präsident Wladimir Putin nicht mit einer unabhängigen Ukraine abfinden will - jedenfalls nicht mit einer Ukraine, die statt der Beeinflussung durch Moskau den Anschluss an den Westen sucht. Vor den Feiern hatte Selenskij zum ersten Treffen der "Internationalen Krim-Plattform" geladen, einer künftig jährlich geplanten Konferenz, die das weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwundene Thema der von Russland besetzten Halbinsel vor allem international wieder ins Bewusstsein bringen soll.

Abgesandte aus nach offiziellen Angaben 46 Ländern bekräftigten bei der Konferenz am Montag in einer Abschlusserklärung, dass sie Russland auf der Krim weiterhin als Besatzungsmacht ansehen, die "vorübergehende" völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel weiterhin nicht anerkennen und für die Rückkehr der Krim in die Ukraine eintreten wollen.

Die Delegationen vieler Länder wurden freilich von zweitrangigen Vertretern angeführt, offenbar um Russland nicht zu verprellen, dessen Außenminister Sergej Lawrow die Konferenz im Vorfeld einen "Hexensabbat" genannt hatte, auf dem der Westen "neonazistische Stimmungen" der ukrainischen Führung pflege. Zwar kamen die Präsidenten Polens, Ungarns und der baltischen Länder; Staats- und Regierungschefs führender Länder wie der USA, Frankreichs oder Deutschlands blieben der Konferenz fern. Dass nicht einmal Bundesaußenminister Heiko Maas nach Kiew kam, entschuldigte die bereits am Sonntag eingeflogene Kanzlerin mit der Krise in Afghanistan. Präsident Selenskij verkündete zum Schluss der nur wenige Stunden kurzen Krim-Konferenz: "Wir haben den Countdown zur Befreiung der Krim begonnen."

Wie dies konkret geschehen soll, ließ der Präsident wohlweislich offen. Denn auf der Krim schafft Moskau Fakten. Die Organisatoren der "Krim-Plattform" schätzen, dass Russland die Zahl der Soldaten auf der Krim seit der Besetzung von 12 500 auf 40 000 mehr als verdreifacht habe, mit einem Arsenal von knapp 1100 Panzern und Schützenpanzern, gut 280 Raketensystemen, 150 Flugzeugen und Hubschraubern, die Kriegsschiffe in der Hafenstadt Sewastopol und anderen Häfen nicht mitgerechnet. Die Spezialisten des Schwarzmeerinstituts für strategische Studien (BSN) gehen gar von bis zu 100 000 russischen Soldaten aus.

Bevölkerungstausch auf der Krim

Daneben zielt Moskau mit der Repression etwa der Krimtataren, den Enteignungen und der Ansiedelung Hunderttausender Russen de facto darauf ab, die einheimische Bevölkerung zu vertreiben. Das BSN schätzt, dass 180 000 Ukrainer die bis 2014 rund 2,3 Millionen Einwohner zählende Krim mitsamt ihrer größten Stadt Sewastopol verlassen haben. Russland habe seinerseits bis zu eine Million Menschen aus dem Kaukasus, dem Norden Russlands oder Sibirien auf der Krim angesiedelt. Den Experten zufolge tauchen Hunderttausende von ihnen nicht in amtlichen Statistiken auf. Würden sie offiziell auf der Krim registriert, erhielten sie wegen der Sanktionen des Westens weder Visa westlicher Staaten noch Konten bei westlichen Banken oder andere Dienste. Und dem BSN zufolge wären noch deutlich mehr Russen zugewandert, hätte Kiew nicht die Umleitung von Wasser auf die wasserarme Krim gestoppt und den Besatzern so erhebliches Kopfzerbrechen bereitet.

Die Besetzung der Krim und Moskaus Krieg in der Ostukraine hätten bei vielen Ukrainern erst zu einer Identifikation mit ihrem jungen Land geführt, stellen Soziologen und Historiker übereinstimmend fest. Von der angestrebten Mitgliedschaft in der Nato oder der Europäischen Union aber ist die Ukraine weit entfernt. Und die Bedrohung ihrer Eigenständigkeit ist womöglich nicht beendet. In langen Ausführungen über "Die historische Einheit von Russen und Ukrainern" beharrte Präsident Putin Mitte Juli darauf, dass Russen und Ukrainer "ein Volk" seien; dass sich die Ukraine "auf Kosten des historischen Russlands" gebildet, Russland "faktisch beraubt" habe und heute quasi willenlos unter der Steuerung der USA und den EU-Ländern ein "Anti-Russland"-Projekt verfolge.

"Wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Territorien und unsere dort lebenden Nächsten gegen Russland benutzt werden", schrieb der Kremlherr und klang fast schon wie seine Vertraute Margarita Simonjan, Chefin des Kreml-Propagandafernsehens RT, die bereits offen die Annexion der Ostukraine fordert. Generell, so Putin, hätten "die heute Regierenden" in der Ukraine ihre Wahl - den Westkurs - nur für sich getroffen, nicht für das Volk: "Aber das bedeutet überhaupt nicht, dass diese Wahl endgültig ist", so Putin.

In einem Interview mit dem Infodienst Novoye Vremya zu 30 Jahren Unabhängigkeit nannte der an der amerikanischen Universität Harvard lehrende Serhii Plokhy, führender Historiker der ukrainischen und russischen Geschichte, Putins Exposé "eine Kriegserklärung", die man "sehr ernst nehmen" müsse. Denn Putin habe die Idee bekräftigt, wonach "die Ukraine und die ukrainische Nation künstliche Bildungen sind und kein Recht auf Existenz haben".

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