Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach der erfolgreichen Offensive der ukrainischen Armee im Osten des Landes Russlands Präsidenten Wladimir Putin gedrängt, "so schnell wie möglich zu einer diplomatischen Lösung" zu kommen. Wie die Bundesregierung am Dienstagabend mitteilte, betonte Scholz die "Ernsthaftigkeit der militärischen Lage" und die Konsequenzen des Krieges in der Ukraine. Der Bundeskanzler forderte in dem 90-minütigen Telefonat mit Putin einen Waffenstillstand, einen "vollständigen Rückzug der russischen Truppen" und die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine als Basis für Verhandlungen.
Der Bundeskanzler warnte den Kremlherrscher zudem, dass etwaige weitere Schritte Russlands zur Annexion ukrainischen Territoriums "nicht unbeantwortet" bleiben werden, was sich als Drohung mit weiteren Sanktionen verstehen lässt. Russlands Besatzungstruppen bereiten im Süden der Ukraine Referenden vor, mit denen Moskau rechtfertigen will, sich ukrainisches Territorium einzuverleiben.
Vormarsch im Osten:Weitere Erfolge sind vielleicht nicht so leicht zu erringen
Die Ukrainer haben einen Fehler der Russen in der Ostukraine ausgenutzt und ihr Vormarsch geht offenbar weiter. Doch immer noch kontrolliert Russland rund ein Fünftel ukrainischen Territoriums - und setzt auf eine Strategie der maximalen Zerstörung.
Es war das erste Telefonat des Kanzlers mit Putin seit Mai. Er sprach die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja an und forderte Putin auf, angesichts der angespannten globalen Lage bei der Versorgung mit Lebensmitteln das mit den Vereinten Nationen vereinbarte Abkommen zum Export von Getreide umzusetzen. Auch müsse Russland Kriegsgefangene gemäß dem internationalen Recht behandeln. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte Putin am Montag bei einem Telefonat aufgefordert, die Waffen der russischen Armee von dem Kraftwerksgelände abzuziehen.
Putin: Russland ist zuverlässiger Energielieferant
Der Kreml teilte mit, Putin habe gegenüber Scholz bekräftigt, dass Russland ein zuverlässiger Energielieferant sei. Für Lieferunterbrechungen machte er die Sanktionen des Westens gegen Russland verantwortlich. Russland hat die vertraglich vereinbarten Lieferungen von Erdgas durch die Pipeline Nord Stream 1 auf unbestimmte Zeit gestoppt. Die vom Staatskonzern Gazprom dafür geltend gemachten technischen Probleme halten die Bundesregierung und technische Spezialisten für nicht glaubwürdig. Vor dem Gespräch mit Putin hatte Scholz sich vergangene Woche mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij beraten.
Im Nordosten der Ukraine geraten die russischen Invasionstruppen immer weiter unter Druck. Nach der großflächig erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Armee in den vergangenen Tagen hat sie nach eigenen Angaben weitere Ortschaften in der Region Charkiw zurückerobert. Die Front verläuft inzwischen offenbar entlang des Flusses Oskil nahe der Grenze zur Region Luhansk. Stellenweise gehen die Fortschritte womöglich sogar darüber hinaus: Serhij Hajdaj, Militärgouverneur von Luhansk, meldete am Dienstag, die Besatzer seien aus der Stadt Kreminna in seinem Verwaltungsgebiet geflüchtet. Gekämpft wird offenbar weiter um die nahe gelegene Kleinstadt Lyman, die zwischen dem inzwischen zurückeroberten Isjum und dem nach wie vor besetzten Lyssytschansk liegt.
Ukraine will alle Gebiete befreien
Die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar erklärte, das Ziel sei, "alle Gebiete, die von der Russischen Föderation besetzt sind", zu befreien. Olexij Arestowytsch, Berater des ukrainischen Präsidialamtes, schrieb bei Twitter, "die Phase des Durchbruchs, des schnellen Vormarsches, des Tsunamis" sei vorerst durch "eine Phase der Konsolidierung" abgelöst worden - um von neuen Stellungen aus weitere Offensiven zu starten. Entlang der Front vom Osten bis in den Süden gibt es weiter Gefechte und Bodenangriffe der Invasionstruppen. Etliche Ortschaften, darunter auch die Städte Nikopol und Mykolajiw, lagen wieder unter russischem Beschuss mit Artillerie und Raketen.
Erfolge meldet die Ukraine von der Front bei Cherson im Süden. Dort sind die ukrainischen Truppen angeblich an einigen Stellen mehrere Kilometer Richtung Südosten vorgedrungen und haben eine Reihe von Ortschaften befreit. Insgesamt hätten die ukrainischen Truppen in diesem Monat im Süden und Osten der Ukraine bereits 6000 Quadratkilometer Boden zurückerobert, sagte Präsident Wolodimir Selenskij. In Cherson und seiner Umgebung wurden Brücken beschossen, um die Versorgung der russischen Truppen über die Flüsse Dnipro und Inhulez hinweg zu verhindern.
Kiew fordert erneut Panzer aus Deutschland
Um das Momentum zu erhalten und zu nutzen, erneuerte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba seine Forderung an die Bundesregierung, die Ukraine mit Panzern der Typen Leopard 2 und Marder zu unterstützen. Kuleba schrieb bei Twitter, aus Deutschland kämen jedoch "enttäuschende Signale". Dabei gebe es "kein einziges rationales Argument", die Lieferung dieser Waffen zu verweigern, "nur abstrakte Ängste und Ausreden".
Der Rüstungskonzern Rheinmetall teilte NDR und WDR unterdessen mit, er habe 16 von der Bundeswehr ausgemusterte Marder-Schützenpanzer "weitestgehend wiederhergestellt". Sie seien bereit zur Auslieferung, es liege jedoch keine Ausfuhrgenehmigung der Bundesregierung vor. Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (beide SPD) sind bislang gegen Leopard-2- und Marder-Lieferungen mit der Begründung, es werde keine deutschen Alleingänge geben.