Süddeutsche Zeitung

Energie:Wie der Krieg die Ukraine zum Strom-Lieferanten macht

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Weil die Produktion weitgehend stillsteht, erzeugt die Ukraine derzeit mehr Energie, als die eigene Wirtschaft verbraucht. Schon jetzt beliefert das Land Rumänien mit Strom, weitere Länder sollen folgen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Experten und Politiker im Westen sind sich nach wie vor uneinig, wie stark Russland selbst die wirtschaftlichen Folgen des Angriffskrieges gegen die Ukraine spürt, den es am 24. Februar begonnen hat. Die kurzfristigen Auswirkungen der Sanktionen sind nach wie vor umstritten, und der Staatshaushalt profitiert von gestiegenen Öl- und Gaspreisen.

Gleichwohl gehen Wirtschaftsforschungsinstitute und Weltbank davon aus, dass dem Land eine schwere Rezession, eine hohe Inflationsrate bevorstehen. Dazu kommen mittelfristig negative Folgen aufgrund des Braindrains, ausbleibender Investitionen und unterbrochener Lieferketten. Der prognostizierte Rückgang des Bruttoinlandsprodukts für 2022 variiert dabei - je nach Institution - zwischen zehn und 25 Prozent.

Was allerdings die Auswirkungen für die Ukraine angeht, so sind sich die Fachleute weitgehend einig: Der Krieg ist - auch ökonomisch - eine Katastrophe. Das Land, heißt es, werde in diesem Jahr aufgrund der russischen Aggression nur etwa die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaften, das noch 2021 erbracht wurde. Nach mehreren Jahren des Wachstums und einem kleineren, covidbedingten Einbruch 2019 sagt die Weltbank den Ukrainern jetzt einen Einbruch beim BIP um 45 Prozent voraus.

Die Ukraine will ein Garant für europäische Energiesicherheit werden

Die ukrainische Regierung versucht nun aus dieser Katastrophe, wo es geht, einen Nutzen zu ziehen: Präsident Wolodimir Selenskij kündigte in der Nacht zum Donnerstag an, dass sein Land den europäischen Partnern mehr Strom als bisher liefern werde. Eine Erklärung: Ein Großteil der im Land produzierten Energie wird offenbar derzeit nicht mehr verbraucht, weil wegen des Kriegs die Produktion stillsteht. "Unsere Exporte erlauben es nicht nur, unsere Deviseneinnahmen zu erhöhen, sondern helfen unseren Partnern, dem russischen Energie-Druck zu widerstehen", sagte der Präsident. Schritt für Schritt werde die Ukraine sich zu einem Garanten für europäische Energiesicherheit entwickeln.

Mitte März, also während des Krieges, auch darauf wies Selenskij hin, sei die Ukraine an das europäische Stromnetz angeschlossen worden. Seit Juli exportiert die Ukraine bereits Energie nach Rumänien.

Die Regierung in Kiew ist seit 2015 mit mäßigem Erfolg bemüht, die eigenen Energiequellen zu diversifizieren und die Abhängigkeit von importiertem Öl und Gas zu reduzieren. Die Kohleproduktion im Donbass hat wegen des Krieges im Osten an Bedeutung verloren. Etwa die Hälfte des Stroms, den das Land selbst produziert, wird derzeit nach wie vor aus Atomenergie gewonnen. Allerdings ist das größte Kernkraftwerk des Landes bei Saporischschja von russischen Truppen besetzt. Medienberichten zufolge sollen sie jetzt auch das Kernkraftwerk in Juschnoukrajinsk besetzt haben. Laut der Atomenergiebehörde IAEO waren von den 15 im Land befindlichen Reaktoren an vier Standorten zuletzt sieben in Betrieb.

Die amerikanische Energieministerin Jennifer Granholm hatte bereits Anfang Juli Gelegenheit, sich zu freuen, als erstmals Strom über die Verbindung nach Rumänien exportiert wurde - auch mit finanzieller Unterstützung aus den USA. Damit habe die Ukraine ihre neue Rolle als Energieexporteurin für Europa aufgenommen. Es sei wichtig, dass das Land nun endgültig vom russischen Stromnetz abgekoppelt sei.

Seit Beginn des Krieges im Donbass 2014 hatte die Ukraine den Plan verfolgt, an das europäische Netz angeschlossen zu werden; der russische Überfall beschleunigte die Umsetzung des Projektes, sodass die Ukraine zweieinhalb Jahre früher als geplant als Mitglied des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (Entso-E) Strom nach Westen liefern konnte. Die Ukraine, sagte eine Regierungsberaterin im Juni der Nachrichtenagentur Reuters, sei jetzt in der Lage, nicht nur Rumänien, sondern auch Ungarn, die Slowakei und Polen zu beliefern. Kiew hofft, damit bis Jahresende 1,5 Milliarden Euro einzunehmen.

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