Süddeutsche Zeitung

Ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine:Deutschlands Abschied von einer Illusion

Lange tat man in Berlin so, als könne man Moskau besser verstehen oder einhegen als alle anderen. Mit dem Amtsantritt der Regierung Scholz begann ein schmerzhafter Prozess des Umdenkens.

Von Daniel Brössler und Nicolas Richter, München

Als die Truppen Wladimir Putins am 24. Februar vor bald einem Jahr die Ukraine angreifen und der Krieg nach Europa zurückkehrt, steht ein Verlierer schon fest: Deutschland mit seiner Russland-Politik der vergangenen Jahre. Gegen den wiederholten Rat aus den USA oder Osteuropa ist man in Berlin lange der Meinung gewesen, Moskau besser verstehen oder einhegen zu können als alle anderen. Der Abschied von dieser Illusion kam aber nicht über Nacht, sondern war ein Prozess, der den neuen Bundeskanzler Olaf Scholz fast vom ersten Tag an begleitete. Wie langsam, zuweilen inkonsequent und schmerzhaft dieser Prozess war, zeigt nun eine Rekonstruktion der Süddeutschen Zeitung, die auf Dutzenden Gesprächen mit Regierungsmitgliedern und hochrangigen Beamten basiert.

In den Wochen nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 scheint der Finanzminister und designierte Kanzler Olaf Scholz (SPD) noch zu glauben, das Gasgeschäft mit Russland werde weitergehen wie üblich. Zusammen mit seinem Vertrauten Wolfgang Schmidt, dem heutigen Kanzleramtsminister, plädiert er für eine rasche Genehmigung der Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas nach Deutschland transportieren soll. So wird noch in der Amtszeit der früheren Kanzlerin Angela Merkel das Verfahren für Nord Stream 2 vorangetrieben. Für Scholz hat dies den Vorteil, dass er einen Konflikt mit seinem künftigen Koalitionspartner, den Grünen, vermeidet, die Nord Stream 2 deutlich kritischer sehen als er.

Nachdem Scholz dann am 8. Dezember als neuer Kanzler vereidigt worden war, mehren sich die Hinweise auf ein zunehmend feindseliges Verhalten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. An den Grenzen zur Ukraine sammeln sich Zehntausende russische Soldaten. Die deutschen Gasspeicher, die damals unter russischer Kontrolle stehen, sind fast leer, derweil unterbricht Moskau den Gasfluss durch die Landpipeline Jamal. Die Energiepreise steigen, die Wirtschaft ist in Sorge. Scholz lässt daraufhin prüfen, welche Notfallpläne es für den Fall gibt, dass die russischen Gaslieferungen ganz ausbleiben. Die Antwort lautet, in den Ministerien habe man für diesen Fall nie geplant.

In dieser Zeit versucht die US-Regierung immer wieder, die Deutschen vor dem drohenden Unheil zu warnen

Die Wochen bis zum Krieg werfen auch Fragen zur Leistung des Bundesnachrichtendienstes (BND) auf, des deutschen Auslandsgeheimdiensts. Er informiert die Bundesregierung zwar bereits am 15. Februar 2022 darüber, dass die Vorbereitungen für eine Invasion abgeschlossen seien. Es könne jetzt jederzeit losgehen, ohne Vorwarnzeit, heißt es damals. Aber der BND weist auch immer wieder darauf hin, dass man Putins Absichten nicht genau kenne. Dies gilt auch für die 24 Stunden vor dem Angriff. Während sich in den USA und bei der Nato Warnungen vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff verdichten, ist das Kanzleramt am Abend des 23. Februar 2022 diesbezüglich nicht im Bilde. So gehen an diesem Abend in der Regierungszentrale keine Berichte des Auswärtigen Amts, des Verteidigungsministeriums oder des BND über den nahenden Kriegsbeginn ein. Scholz beruft keine Krisenrunde ein.

In dieser Zeit versucht die US-Regierung immer wieder, die Deutschen vor dem drohenden Unheil zu warnen. So erhält Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck am Abend des 23. Februar am Rande eines Besuchs der US-Handelsbeauftragten Katherine Tai von jemandem aus der US-Delegation einen Umschlag mit Geheimdienstinformationen, die auf einen unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff schließen lassen. Es ist unklar, ob und wann Habeck diese Information mit anderen Regierungsmitgliedern teilt. Am Abend warnt er jedenfalls in der ARD-Talksendung "Maischberger": "Wir stehen kurz vor einem massiven Landkrieg in Europa."

Knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn standen am Freitag die massiven Veränderungen der Weltlage, aber auch Deutschlands durch den russischen Überfall auf die Ukraine im Zentrum der Münchner Sicherheitskonferenz. Deutschland habe "mit jahrzehntelangen Grundsätzen bundesrepublikanischer Politik gebrochen", sagte Bundeskanzler Scholz zum Auftakt der dreitägigen Tagung mit 40 Staats- und Regierungschefs und fast 100 Ministern und weiteren Politikern aus insgesamt 96 Ländern. Scholz verwies auf den Bruch mit der Linie, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Kritik an den Waffenlieferungen wies er zurück. "Nicht unsere Waffenlieferungen sind es, die den Krieg verlängern. Das Gegenteil ist richtig", betonte er. Je früher Präsident Putin einsehe, "dass er sein imperialistisches Ziel nicht erreicht, desto größer ist die Chance auf ein baldiges Kriegsende, auf Rückzug russischer Eroberungstruppen".

"Sorgfalt vor Schnellschuss, Zusammenhalt vor Solo-Vorstellung", nannte Scholz als seine Leitmotive

Scholz verteidigte seine von der Opposition und insbesondere von osteuropäischen Partnern wiederholt als zögerlich kritisierte Entscheidungsfindung etwa bei der Lieferung von Kampfpanzern. "Die Balance zwischen bestmöglicher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation werden wir auch weiterhin halten", kündigte er an. Er sei "froh und dankbar", dass US-Präsident Joe Biden und viele andere Verbündete "das genauso sehen wie ich". Es gelte, alle Konsequenzen sorgfältig abzuwägen und alle wichtigen Schritte eng abzustimmen unter Bündnispartnern. "Denn es geht um einen Krieg in unserer Nähe, in Europa - einen gefährlichen Krieg", sagte er. "Sorgfalt vor Schnellschuss, Zusammenhalt vor Solo-Vorstellung", nannte Scholz als seine Leitmotive.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij dankte aus Kiew zugeschaltet für die westliche Unterstützung und zeigte sich zuversichtlich, dass die Ukraine noch in diesem Jahr den von Russland begonnenen Krieg gewinnen werde. "Wir können es gemeinsam schaffen", sagte er. Die Ukraine sei dabei aber auf "Geschwindigkeit" bei den Waffenlieferungen angewiesen - "denn davon hängt unser Leben ab".

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