Die Frage klingt berechtigt. „Noch ein Buch über die Ukraine?“, lautet der erste Satz in „Meine wilde Nation“. Fürwahr, seit Putins Annexion der Krim, erst recht seit seinem Angriffskrieg im Februar 2022, überschwemmen Ukraine-Bücher den Markt, darunter hervorragende wie „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“ von Sabine Adler, „Der Angriff - Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“ von Serhii Plokhy oder „Zeitenwende“ von Rüdiger von Fritsch.
Alex Lissitsa ist kein typischer Sachbuchautor, ist weder Journalist noch Wissenschaftler, sondern einer der größten Agrarproduzenten der Ukraine, ein quirliger, politisch engagierter Landwirt, Berater, Funktionär, geboren 1974 im kleinen Dorf Tschernihiw an der Grenze zu Russland. Umstände und Zufälle führten ihn in jungen Jahren an die Berliner Humboldt-Universität, ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützte dort seine Promotion.
Über den Senf, der aus der Ukraine kommt
Lissitsa spricht fließend Deutsch, hat sein Werk daher auf Deutsch verfasst und auf eine deutsch(sprachig)e Leserschaft ausgerichtet. Ihr will er sehr persönliche Einblicke bieten in eine weniger bekannte Ukraine, in die Sitten und Gepflogenheiten einer Nation, die nie wirklich aus dem bedrohlich-mächtigen sowjetisch-russischen Schatten heraustreten konnte und durfte. In Deutschland kenne man nur „Korruption, Tschernobyl, Dynamo Kiew und Klitschko“, meinte Lissitsa mal in einem Interview. Aber niemand wisse, dass „die Hälfte des Senfs, der in Deutschland produziert wird, aus der Ukraine kommt“.
Er ist bestens vernetzt; das zeigt sich schon darin, dass ihn – wie freilich andere ukrainische Prominente auch – am 23. Februar 2022, dem Vorabend des russischen Überfalls, der Anruf eines „guten Freundes“ (beim Geheimdienst) erreicht, der ihm verrät: „Morgen früh um 4 Uhr geht es los.“
Lissitsa nennt das Buch „meinen Weg durch den Krieg“, es ist ein Mix aus Autobiografie, persönlich gefärbter Landeskunde, Gesellschaftsanalyse und Kriegsbericht. Am Ende gerät es zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für mehr militärische Unterstützung und einen EU-Beitritt seiner Heimat.
Blockierte Transportwege, geschlossene Häfen
Für einen Unternehmer wie ihn stellen sich außer existenziellen und politisch-moralischen auch praktische Kriegsfragen. Schützengräben ziehen sich durch Weizenfelder, ein Viertel der Anbaufläche ist vermint oder von Bomben und Militärgerät unbrauchbar gemacht, die Hälfte der männlichen Mitarbeiter eingezogen, schildert er die verheerende Lage. Niemand wisse, wohin mit 200 000 Tonnen geerntetem Mais, weil Transportwege blockiert und zerstört sind und die Häfen geschlossen.
Man sieht einen Alltag, den die Kameras ausländischer TV-Kriegsreporter selten ausleuchten, weil ihnen der Zugang fehlt oder die Zeit. Die Kämpfe treiben Lissitsa unter anderem in ein Wellness-Resort kurz vor Polen, das sich über Nacht in ein Gewusel aus Geschichten und Schicksalen verwandelt hat und in einen Abschiedsort für Familien: Männer fahren Frauen und Kinder zur Grenze und kehren dann um für den Kriegsdienst. Sogar der gesamte Fußballverein von Dynamo Kiew landet dort, mit Tross in zwei Bussen, sämtliche Spieler und das Personal der Mannschaft.
Das Problem mit der Korruption treibt den Autor um
Da sich Lissitsa auch als Streiter für eine bessere Ukraine sieht, zeigt er ohne Scheu, was dort schon länger im Argen liegt, allem voran Korruption, Oligarchen-Umtriebe, politische Seilschaften. Da gab es den Politiker, der Investitionen mit geliehenen Millionen in den Sand setzte, sich krankmeldete und nach Deutschland absetzte, was ihn nach ukrainischem Recht unkündbar macht. Oder die tragikomischen Hindernisse der postsowjetischen Phase: Lissitsa mokiert sich darüber, dass die Ukraine 1994, vier Jahre nach der Unabhängigkeit, es „noch immer nicht geschafft“ hatte, eigene Pässe zu drucken, sondern alte Dokumente im Bordeaux-Ton sowjetischer Reisepässe ausgab: „Der Eintrag Bürger der Sowjetunion war schlicht und einfach durchgestrichen und mit Bürger der Ukraine überstempelt. Alle meine Angaben standen dort auf Russisch. Die ukrainische Sprache kam in dem Dokument nicht vor.“ Da die sowjetischen Pässe außer der russischen Version eine Übersetzung ins Französische hatten, wurde sein Name hin und her transkribiert. Im Ukrainischen und nach heutiger Transkription müsste er Oleksiy Lysytsya lauten, die französische Fassung seines russischen Namens führte dagegen zu Alexei Lissitsa. Fast egal, beide Versionen gelten im westlichen Ausland als unaussprechlich, seufzt der Autor.
Die Namens-Story zieht sich über viele Seiten hin. Auch andere Passagen und Anekdoten geraten sehr lang, selbstbezogen und angesichts des ernsten Themas mitunter banal, egal ob es um Lissitsas Teilnahme an Konferenzen geht, um seine Wein- und Filmfavoriten oder seinen Kater Kiki. Manchem hätte Zurückhaltung seitens des Autors gutgetan genauso wie Straffung seitens des Lektorats; bei der Gelegenheit hätten sich auch die Grammatikfehler und Sprachschnitzer tilgen lassen.
Man verzeiht aber Eitel- und Nebensächlichkeiten, denn „Meine wilde Nation“ dient der richtigen Sache. Lissitsa stellt sich Mythen und Missverständnissen entgegen, vor allem der Ignoranz einiger deutscher Politiker, die selbst nach zwei Jahren Angriffskrieg noch als Putin-Versteher auftreten. Ihn erreichten verstörende Äußerungen, „in denen es sinngemäß hieß, die Ukraine habe keine Chance, den Krieg zu gewinnen, also solle man sich ergeben. Auf meine Nachfrage kam prompt die Antwort: Ihr seid doch alle Russen, warum wollt ihr kämpfen und sterben?“
Mehr Wissen und Geschichtsbewusstsein wären angezeigt. Die Verbrechen der Nazis, darunter die Massenerschießungen in Babij Jar nahe Kiew im September 1941, oder die jahrzehntelange Kreml-Klüngelei von Schröder, Steinmeier, Merkel & Co verlangen Deutschland Verantwortung gegenüber der Ukraine ab. Solange bei uns unfassbare Haltungen herrschen, braucht es Ukraine-Erklärer wie Adler, Plokhy, von Fritsch, Lissitsa – und deren Bücher.