Krieg in der Ukraine:Angriff oder Ablenkungsmanöver?

Krieg in der Ukraine: Beschädigte Antoniwka-Brücke über den Dnipro in Cherson.

Beschädigte Antoniwka-Brücke über den Dnipro in Cherson.

(Foto: IMAGO/Sergei Bobylev/IMAGO/ITAR-TASS)

Aus Belarus sollen Raketen auf den Norden der Ukraine abgefeuert worden sein. Unklar ist, ob die Russen dahinterstecken und damit Teile des ukrainischen Militärs binden wollen, das gerade eine Offensive im Süden vorbereitet. Was bedeutet das für den Krieg?

Von Nicolas Freund

Nach Wochen des Stellungskriegs scheinen in der Ukraine derzeit einige Verschiebungen in der Dynamik des Konflikts stattzufinden. Das ukrainische Einsatzkommando für den Norden teilte mit, am frühen Mittwochmorgen sei "der Start von mehr als 20 Raketen aus dem Hoheitsgebiet von Belarus registriert" worden. Diese sollen südlich von Tschernihiw in der Nähe von Hontschariwske eingeschlagen sein. In dem Ort gibt es einen Stützpunkt der ukrainischen Streitkräfte. Über Schäden oder Opfer ist bisher nichts bekannt. Auch im Norden von Kiew sollen wieder Raketen eingeschlagen sein, nachdem die Hauptstadt längere Zeit von Angriffen verschont worden war. Details sind auch hier nicht bekannt und die Meldungen bisher nicht unabhängig bestätigt.

Der Angriff ist nicht unbedingt als Eskalation des Konflikts oder Vorzeichen für einen Kriegseintritt Belarus' zu werten. Russische Streitkräfte hatten schon zu Beginn des Krieges von belarussischem Staatsgebiet aus die Ukraine angegriffen und auch immer wieder Raketen gestartet. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat zuletzt aber stets versucht, mutmaßlich trotz Drängen Moskaus, seine Armee aus dem Krieg herauszuhalten. Lukaschenko steht nach Massenprotesten innenpolitisch unter Druck, die belarussische Bevölkerung ist in der Mehrheit gegen den Krieg in der Ukraine. Bisher ließ Lukaschenko die Armee nur an der Grenze aufmarschieren, um ukrainische Kräfte auf der anderen Seite der Grenze zu binden. Möglicherweise haben diese Raketenangriffe aus Belarus, auch wenn sie wahrscheinlich von Russland durchgeführt wurden, nun einen ähnlichen Zweck.

Denn die ukrainische Armee kündigt seit einiger Zeit eine große Gegenoffensive im Süden an und hat durch Beschuss der Antoniwka-Brücke über den Dnipro bereits versucht, die russischen Truppen in der besetzten Stadt Cherson von Nachschub abzuschneiden. Auch der britische Militärgeheimdienst teilte in seiner Lageeinschätzung vom Mittwoch mit, die ukrainische Offensive in der Region komme "in Schwung". Das sieht man im Kreml wohl ausnahmsweise ähnlich: So soll die russische Armee "massive" Truppenverlegungen in den Süden vornehmen, vor allem in die Städte Cherson, Saporischschja und Melitopol.

Kann die Ukraine Cherson zurückerobern?

Steht also die Wende im Krieg bevor? Bekommt Moskau jetzt Angst vor ukrainischen Gegenangriffen? Der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam sieht die Lage im Süden weniger optimistisch, betont aber auch, dass die Situation derzeit sehr schwer einzuschätzen sei: "Es ist klar, dass die Ukraine diesen Brückenkopf beseitigen sollte, weil man von Cherson aus Richtung Mykolajiw und Odessa vorstoßen kann." Auch mit den neuen, sehr effektiven Himars-Waffensystemen bleibt das aber wahrscheinlich eine Herausforderung: "Die Raketenwerfer helfen sicherlich, und die Russen ziehen sich wohl auch ein Stück zurück. Aber die Ukrainer haben bisher nirgends eine schwer befestigte russische Stellung durchbrochen."

Wie viele andere Militärexperten betont Neitzel den Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung und warnt vor zu hohen Erwartungen im Westen. "Beim Angriff ist die Koordination von Artillerie, Luftwaffe, Infanterie, Panzern und vielleicht auch noch Cyberangriffen eine Wissenschaft für sich. Der Beweis, dass die Ukrainer das beherrschen, steht noch aus. Es gibt bereits lokale Gegenangriffe, aber nichts im großen Stil. Es würde mich sehr wundern, wenn die Ukrainer es schaffen, Cherson zurückzuholen, so wünschenswert es auch wäre."

Ausgeschlossen werden könne eine erfolgreiche ukrainische Offensive aber natürlich nicht. Wahrscheinlich würde sie den Charakter des Krieges stark verändern. Neitzel sieht das ähnlich: "Wenn die Ukrainer es schaffen, die Angreifer hinter den Dnipro zurückzudrängen, dann wäre das eine große Niederlage für die Russen. Deshalb erwarte ich bei Cherson sehr heftige Kämpfe. Ob die Ukrainer das dann durchhalten, ist aber nicht klar." Möglicherweise steht im Krieg in der Ukraine eine neue Phase bevor.

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