Russische SommeroffensiveUkraine-Krieg: Mad Max an der Front

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„Stählernes Stachelschwein“: Noch gelingt es der ukrainischen Armee zumeist, die russischen Angreifer mit Drohnen und Abwehrraketen auf Distanz zu halten. Stepanov/File Photo
„Stählernes Stachelschwein“: Noch gelingt es der ukrainischen Armee zumeist, die russischen Angreifer mit Drohnen und Abwehrraketen auf Distanz zu halten. Stepanov/File Photo (Foto: Anatolii Stepanov/REUTERS)

Die russische Armee hat ihre Taktik geändert: Sie lässt nun wie im Actionfilm Soldaten auf Motorrädern die ukrainischen Stellungen angreifen und schickt nur selten gepanzerte Fahrzeuge in den Kampf. Das schont das Material, nicht aber die Menschen.

Von Sebastian Gierke

Die Frontlinie verändert sich seit mehreren Wochen kaum. Das bedeutet aber nicht, dass es ruhig ist in der Ukraine, dass der Abnutzungskrieg an Intensität verliert. Im Gegenteil: Die Invasoren greifen so oft an, wie noch nie zuvor, das hat eine Datenanalyse des britischen Telegraph gerade bestätigt. Die russische Sommeroffensive, die im Mai begann, läuft weiter. Zwar verlieren die Angreifer weiter Soldaten, im Moment aber nur sehr wenige gepanzerte Fahrzeuge, viel weniger als im vergangenen Jahr, als regelmäßig russische Kolonnen von der Ukraine zerstört wurden. Wie passt das zusammen? Und was sagt es über den Zustand der russischen Armee aus? Und über die Situation, in der sich die Ukraine befindet?

In den ersten vier Wochen war die russische Offensive durchaus erfolgreich. Fast 15 Quadratkilometer am Tag konnten die Invasoren erobern. Mittlerweile hat sich das Tempo der Vorstöße aber entlang der gesamten, mehr als 2000 Kilometer langen Front deutlich verlangsamt.

In der Region Sumy, im Norden der Ukraine, ist der russische Vormarsch aktuell vollständig zum Erliegen gekommen. Der Plan, bis auf etwa 20 Kilometer an die Großstadt Sumy heranzukommen und sie von dort mit Drohnen und Artillerie terrorisieren zu können, ist zumindest vorerst gescheitert. Gustav Gressel, Experte für Russland und Militärstrategie, glaubt, dass hier vor allem ukrainische Truppen gebunden werden sollen.

(Foto: SZ-Grafik, Quelle: ISW (Stand 1.7.2025))

Denn das Hauptgewicht der russischen Angriffe liegt weiterhin im Donbass, insbesondere im Raum zwischen den Städten Pokrowsk und Kostjantyniwka. Auch bei Kupjansk versucht die russische Armee, ihre Stellungen zu erweitern.

(Foto: SZ-Grafik, Quelle: ISW (Stand 1.7.2025))

Immer öfter nutzen die russischen Soldaten dafür Motorräder und Buggys. „Mad-Max-Angriffe“ nennen die Ukrainer das, nach den dystopischen Actionfilmen. Oder auch „Banzai-Angriffe“. So hatten die Alliierten im Zweiten Weltkrieg selbstmörderische Sturmattacken japanischer Soldaten genannt, die meist im Maschinengewehrfeuer endeten.

Russische Angriffe auf Motorrädern gibt es in der Ukraine schon seit Anfang 2024, mit der aktuellen Offensive ist ihre Anzahl aber noch einmal deutlich gestiegen. Bemerkenswert ist das vor allem, weil die russische Armee, anders als im vergangenen Jahr, kaum noch mechanisierte Verbände nutzt. Damals waren es oft zwei oder drei Schützenpanzer hinter einem oder zwei Kampfpanzern, die auf die ukrainischen Stellungen zurollten. Jetzt sind es sechs bis acht Motorräder, besetzt jeweils mit einem oder zwei Mann.

Halten die Russen gerade ihre gepanzerten Fahrzeuge bewusst zurück?

Die russische Armee hat ihre Taktik verändert, weil sie musste, glaubt Gustav Gressel. „Die Russen sind jetzt bei der Nachrüstung in einer kritischen Phase“, sagt er. Gepanzerte Fahrzeuge seien mittlerweile Mangelware. Die Produktion sei zwar deutlich gesteigert worden, sie übertreffe die von Europäern und US-Amerikanern zusammen, sagt Gressel. Doch die Altbestände, deren Wiederinstandsetzung einen Großteil des Geräts ausmacht, das an die Front geliefert wird, seien fast aufgebraucht. „Jetzt kommt sozusagen die letzte Generation aus dem Depot“, so Gressel. Und das seien die „kaputtesten fahrbaren Untersätze, die man finden kann“. Deshalb brauche es sehr viel Zeit, um diese Fahrzeuge wieder flottzumachen.

Ist es also wirklich der Mangel an Fahrzeugen, der dazu führt, dass sie kaum mehr auf dem Schlachtfeld auftauchen? Es sind so wenige im Moment, dass die Neuproduktion die Verluste mehr als ausgleicht, wiederhergestellte Altfahrzeuge nicht mitgerechnet. Einige Militärexperten, etwa der österreichische Oberst Markus Reisner, fürchten deshalb, dass Russland die Fahrzeuge bewusst zurückhält, um damit „im entscheidenden Moment Durchbrüche zu erzielen“.

Gustav Gressel sieht das ähnlich, aber nicht ganz so düster. „Mechanisierte Angriffe haben wir zuletzt nur noch gesehen, wenn die Russen glaubten, die ukrainische Front sei extrem schwach.“ Das schwere Gerät werde also nicht eingesetzt, um einen Durchbruch zu erzielen, sondern um einen Durchbruch auszunutzen und „ein größeres Gelände in Besitz zu nehmen“. Ein solcher Durchbruch sei allerdings bislang nicht gelungen.

Das liegt vor allem an der schwer zu durchdringenden Wand von Drohnen, die die Ukraine errichtet hat. Neben dem Mangel an gepanzerten Fahrzeugen ist sie der zweite Grund, warum die russische Armee ihre Taktik geändert hat und jetzt vermehrt auf Motorradeinheiten setzt. Die ukrainischen Drohnen überwachen entlang der Front einen etwa zehn Kilometer breiten Streifen, oft Todeszone genannt. Um diese zu überwinden, eignen sich die Motorräder, billig beschafft aus China und zum einmaligen Gebrauch bestimmt. Und sollte eine Drohne ein Motorrad erwischen, sind die Verluste nicht so groß wie bei einem voll beladenen Pick-up beispielsweise. Außerdem kann auch die Zeit relativ genau bestimmt werden, die die Infanteristen benötigen, um bei den ukrainischen Stellungen anzukommen.

Für die russische „Sturmtaktik“, wie Gressel sie nennt, ist das essenziell. Denn bevor die Motorradfahrer auf ihre oft tödliche Mission geschickt werden, werden Gleitbomben mit gewaltiger Zerstörungskraft auf die ukrainischen Stellungen abgeworfen. „Mit diesen soll die Ukraine in eine tiefe Stellung gezwungen werden“, erklärt Gressel. „Und wenn sie aus den Schutzräumen wieder herauskommen, dann wollen die Russen schon in die Stellung eingesickert sein.“

Die Ukrainer wollen die russischen Angriffe „operativ sinnlos“ machen

Mit dieser Taktik verliert Russland sehr viele Soldaten, große Fortschritte gelingen bislang nicht. Der ehemalige ukrainische Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk hat in einem Aufsatz gerade versucht, daraus eine „neue Theorie des Sieges“ für die Ukraine zu entwerfen. Weil Putin den Krieg nicht beenden wolle, müsse die Ukraine dafür sorgen, dass Russlands Angriffe „operativ sinnlos“ würden, schreibt Sahorodnjuk. So könne das Land überleben und Erfolg haben, egal wie lange der Krieg dauere. Es gehe nicht darum, jedes Fahrzeug oder jeden Soldaten außer Gefecht zu setzen, vielmehr müssten die wichtigen operativen Systeme des Feindes neutralisiert werden. Dafür sei eine Kombination von weitreichenden Präzisionsschlägen mit Raketen, dem Einsatz von Drohnen, geheimdienstlicher Arbeit und elektronischer Kriegsführung notwendig. So könne die Ukraine Soldaten sparen und den Widerstand über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten.

Gustav Gressel sieht diesen Ansatz skeptisch. Der Experte befürchtet ein „langsames Ausbluten“ der Ukraine. Gerade hat Washington die Lieferung einiger bereits zugesagter Waffen gestoppt, darunter dringend benötigte Flugabwehrraketen für die Patriot-Systeme. „Die Ukraine müsste in die Lage versetzt werden, wieder offensiv tätig zu werden“, sagt Gressel. Doch dazu fehlten ihr die Mittel. Die Europäer täten nach dem Wegbrechen der Hilfen aus den USA zu wenig. Denn auch die Ukraine müsste eine Drohnenwand überwinden, auch ihr fehlen gepanzerte Fahrzeuge. „Weil sie in der Defensive ist, wirkt sich das nicht so dramatisch aus wie bei den Russen“, sagt Gressel. Doch anders als Sahorodnjuk, der hofft, die Ukraine könne zu einem „stählernen Stachelschwein“ werden, an dem sich Russland die Zähne ausbeißt, sieht der Militärexperte in der reinen Defensive kein langfristiges Erfolgsmittel. Gressel ist sich sicher: „Wenn der Westen will, dass Putin verhandelt, dann müsste der militärische Druck auf Russland steigen.“

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SZ PlusVon Florian Hassel (Text) und Friedrich Bungert (Fotos)

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