Die aktuelle Kriegslage:Lob, Dank und Verdammung

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Der ukrainische Präsident Selenskij, hier bei einem Besuch in der Atomanlage Tschernobyl. (Foto: Valentyn Ogirenko/REUTERS)

Der ukrainische Präsident Selenskij schickt am 64. Tag des Krieges präzise Botschaften zur Lage an alle Seiten.

Von Andrea Bachstein, München

Würde es endlich gelingen, Menschen aus dem belagerten Mariupol herauszuholen, wo noch etwa 100 000 Leute ausharren und kaum noch zu Essen und Trinken haben? Das war die Frage am Freitag in der Ukraine, bis zum Abend war die Antwort nicht da. "Heute ist eine Operation geplant, um die Zivilisten aus dem Werk zu bekommen", hieß es am Morgen aus dem Büro von Präsident Wolodimir Selenskij. Er selbst, wie immer Zuversicht verbreitend in all dem Schrecken teilte mit, er glaube, dass dies möglich sei mit der Hilfe der Vereinten Nationen.

UN-Generalsekretär António Guterres hatte von seinem Gespräch mit Wladimir Putin am Dienstag im Kreml eine vage Zusage nach Kiew mitgebracht, dass die russische Seite Mariupols Evakuierung ermöglichen würde und die Befreiung von rund 1000 Zivilisten, die im Werk Asowstahl Schutz vor Bomben und Raketen gesucht haben. Die UN würden alles versuchen, um zu helfen, hatte Guterres gesagt.

Am Donnerstag war er in Kiew, besichtigte einen zerstörten Vorort und traf Selenskij. Bald danach schoss Russland Raketen auf die Hauptstadt, der als Friedensbotschafter reisende UN-Chef war noch dort. Später meldete sich Selenskij wie jede Nacht per Video und richtete Botschaften präzise dosiert an Adressaten von Washington bis Moskau, mit Lob, Dank und Verdammung.

"Es war sehr wichtig, dass der Generalsekretär Borodjanka in der Region Kiew besuchte und mit eigenen Augen sah, was die russischen Besatzer dort anrichteten. Es besteht kein Zweifel daran, dass die russische Armee in der Ukraine die Grundlagen der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Weltordnung mit Füßen getreten hat", sagte Selenskij. "Aber wir brauchen auch die russische Seite, die ohne Zynismus an die Sache herangeht und was sie sagt, tatsächlich umsetzt." Das ließe sich übersetzen in: Russen lügen, verachten Menschen, hätten aber in Mariupol die Chance, Positives in der von ihnen angerichteten Katastrophe zu tun.

Biden will weitere 33 Milliarden Dollar für die Ukraine bereitstellen

Natürlich schickte Selenskij Dank über den Atlantik. US-Präsident Joe Biden dafür gesorgt, dass die Ukraine noch einmal mächtige Hilfe bekommt von den Vereinigten Staaten, Biden will weitere 33 Milliarden Dollar für Kiew beantragen. Dafür verabschiedete der der US-Kongress eine neue Version des "Lend-Lease"-Gesetzes aus dem Zweiten Weltkrieg, das den Präsidenten bis 2023 ermächtigt, der Ukraine und anderen Staaten, die vom russischen Angriffskrieg betroffen sind, Militärausrüstung zu leihen oder zu verpachten. "Wir müssen das tun", sagte Biden im Weißen Haus. Selenskij dankte auch per Twitter: "Wir verteidigen gemeinsame Werte - Demokratie und Freiheit. Wir schätzen die Hilfe der USA", schrieb er. Wie abgesprochen passte das zu Bidens Tweet: "Wir brauchen dieses Gesetz um die Ukraine in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen."

Mitzuteilen, dass die Offensive der Russen im Osten den Ukraine-Streitkräfte in den vergangenen Tagen schwere Verluste zufügten, überließ Selenskij seinem Berater Oleksij Arestowytsch. Auch der formulierte so, dass noch Zuversicht bleiben sollte - ja, schwere eigene Verluste, doch die der russischen Armee seien größer: "Ihre Verluste sind kolossal." Der britische Militärgeheimdienst bestätigte dies, es seien "die russischen Gebietsgewinne begrenzt" worden und zwar "unter erheblichen Kosten für die russischen Streitkräfte".

Von relativer Ruhe an den Fronten berichtete die ukrainische Militärführung am Freitag nach den heftigen Kämpfen der vergangenen Tage. Russische Behörden berichteten, in der grenznahen Region Kursk sei von der Ukraine aus ein Kontrollposten beschossen worden, und laut der russischen Agentur Interfax schoss Russland erstmals von einem U-Boot im Schwarzen Meer Kalibr-Lenkraketen ab.

Den Beschuss von Kiew, bei dem eine Frau getötet und mehrere Menschen verletzt wurden, verurteilte auch die Bundesregierung scharf: "Das Vorgehen der russischen Seite ist menschenverachtend". Es offenbare der "Weltgemeinschaft zudem erneut, dass Putin und sein Regime keinerlei Respekt vor dem internationalen Recht haben", sagte ein Regierungssprecher in Berlin. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow sprach von einem Angriff auch auf die "Sicherheit der Welt". Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko formulierte es so: Moskau habe Guterres den Stinkefinger gezeigt.

Die britischen Hilfsorganisation Presidium Network teilte mit, russisches Militär habe zwei ihrer freiwilligen, britischen Helfer in der Ukraine gefangen genommen, und zwar am Montag an einem Kontrollposten südlich der Großstadt Saporischschja. Die beiden Männer seien unterwegs gewesen, um Lebensmittel und Medikamente zu verteilen und bei Evakuierungen zu helfen. Das britische Außenministerium tue alles , um die beiden Personen zu unterstützen und zu ermitteln", sagte die britische Handelsministerin Anne-Marie Trevelyan im Sender Sky News.

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