Krieg in der Ukraine:Viele ukrainische Juden fliehen nach Deutschland

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Ein Plakat an der Jewish International School - Masorti Grundschule in Berlin begrüßt jüdische Kinder aus der Ukraine. (Foto: Christian Ditsch/Imago/epd)

Vor dem Krieg lebten etwa 300 000 Juden in der Ukraine. Jetzt sind viele auf der Flucht. Konstantin Grosman ist mit seiner Familie nach Deutschland gekommen, wo eine jüdische Gemeinde sie aufgenommen hat.

Von Lorenzo Gavarini

Es sei in der Ukraine nicht mehr wie in der Sowjetunion, wo man sein Jüdischsein verstecken musste, sagt Konstantin Grosman. Zum Beispiel, um einen Studienplatz zu bekommen. "Heute ist man stolz auf seinen jüdischen Glauben. Wir haben ja mittlerweile sogar einen jüdischen Präsidenten", sagt Grosman und lächelt, ein grauschwarzer Schnauzbart krönt seine Oberlippe.

Der 53-Jährige stammt aus Mykolajiw, einer Großstadt im Süden der Ukraine. Dort war er Teil einer lebendigen jüdischen Gemeinde. Vor mehr als drei Wochen ist er von dort geflohen. So wie 3,8 Millionen Ukrainer seit Beginn des russischen Angriffskriegs, darunter den Vereinten Nationen zufolge etwa 27 000 der insgesamt 300 000 Juden in der Ukraine. Seit dem 8. März ist Grosman in Deutschland. Jetzt sitzt er an einem Konferenztisch in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Nürnberg und trinkt schwarzen Kaffee. Er spricht Ukrainisch, eine Mitarbeiterin der IKG übersetzt.

Die Geschichte der Juden in der Ukraine ist auch eine von Leid, Flucht und Tod. Während des Russlandfeldzugs der Nazis fielen etwa 1,5 Millionen ukrainische Juden dem Holocaust zum Opfer, rund 60 Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung. Das wohl bekannteste Verbrechen der Deutschen in der Ukraine ist die Massenerschießung in der Schlucht von Babyn Jar in Kiew. Zwei Tage dauerte das Massaker, bei dem mehr als 33 000 Jüdinnen und Juden ermordet wurden.

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Nach der Befreiung durch die Rote Armee waren die ukrainischen Juden zwar sicherer, aber nach wie vor nicht willkommen. Im Kalten Krieg emigrierten viele von ihnen nach Israel, der Zerfall der Sowjetunion beschleunigte diesen Prozess. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen viele auch nach Deutschland, hier haben 45 Prozent der Jüdinnen und Juden heute ukrainische Wurzeln. Überhaupt war das Land in der Vergangenheit ein wichtiges Ziel für Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. In den vergangenen 30 Jahren kamen von dort insgesamt mehr als 200 000 hierher.

Manche der Geflüchteten sind Überlebende der Shoah

Das Zielland Nummer eins der Juden, die jetzt fliehen, ist Israel, sagt Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), des sozialen Dachverbands der jüdischen Gemeinden in Deutschland. "Aber ich würde mal behaupten, Deutschland kommt dann schon sehr schnell danach", fügt er hinzu. Bislang sind bereits einige Tausend ukrainische Juden nach Deutschland geflohen, Schuster geht davon aus, dass es bis zu 5000 werden könnten.

Die jüdischen Geflüchteten, die jetzt aus der Ukraine nach Deutschland kommen, seien zum Großteil sehr schutzbedürftig. "Manche sind Jahrgang '33, '39, das sind Shoah-Überlebende, die brauchen natürlich eine ganz besondere Unterstützung", sagt Schuster. Es seien aber vor allem Frauen und Kinder, und sie seien verzweifelt. Die ZWST bringe mittlerweile täglich Busse von Chişinău, der Hauptstadt Moldaus, das im Westen an die Ukraine grenzt, nach Frankfurt am Main, wo der Sitz der "jüdischen Caritas" liegt, wie Schuster die von ihm geleitete Organisation beschreibt. Von der Sammelstelle in Frankfurt geht es für die Menschen weiter in eine der mehr als 100 jüdischen Gemeinden in Deutschland. Viele haben aber auch Verwandte oder Bekannte hier, so wie Konstantin Grosman, dessen Bruder und Mutter schon seit Jahren in Nürnberg leben.

Unerwartete Möglichkeit zur Flucht

Auch Grosman entkommt dem Krieg über Moldau. Ein paar Tage nach den ersten Bombenangriffen begleitet er seine Frau und seine zwei kleinen Töchter, zwei und drei Jahre alt, bis an die ukrainisch-moldauische Grenze. Er rechnet damit, sich dort von seiner Familie verabschieden zu müssen. Die letzten zehn Kilometer müssen sie laufen. "Überall Schnee und Matsch, teilweise bis zu den Knien", sagt Grosman. Es sei wahnsinnig kalt gewesen. "Meine Jüngste war kaum noch am Leben", sagt er. Eigentlich dürfte Grosman mit seinen 53 Jahren wegen der generellen Mobilmachung die Ukraine nicht verlassen. Nur, weil es seinen Töchtern so schlecht geht und seine Frau eine Herzkrankheit hat, darf Grosman unerwartet mitkommen. "Ich trage immer noch dieselben Klamotten wie damals", sagt er und zeigt auf seine blaue Jeans und den grauen Wollpulli. Er habe schlichtweg nicht mehr dabeigehabt.

Konstantin Grasman ist Puppenspieler und -bauer. Er würde mit seiner Familie gern in Nürnberg bleiben. (Foto: privat)

Von Moldau geht es für die vierköpfige Familie weiter nach Rumänien, der Bruder in Nürnberg bucht dann einen Flug für sie nach Deutschland. Seitdem leben sie in der mittelfränkischen Großstadt, die IKG hat ihnen eine Wohnung in dem Seniorenheim der lokalen Schwesternschaft organisiert, wie auch für acht weitere Familien aus der Ukraine. "Ich bin sehr dankbar, dass man hier in Deutschland das Judentum so offen ausleben kann", sagt Grosman. Vor zwei Wochen feierte die Gemeinde in Nürnberg das Purimfest, eine seltene Ablenkung für Grosmans Töchter seit Beginn des Krieges. Er sorgt sich um sie. "Immer wenn Flugzeuge oder Helikopter vorbeifliegen, fangen sie an zu weinen und verstecken sich, weil sie Angst haben, dass es wieder losgeht."

Er fühlt sich in Deutschland sicher. Er will hier in Nürnberg bleiben, in der Ukraine ist ihm die Gefahr zu groß. "Die machen jetzt irgendeinen Friedenspakt, und dann geht es in zwei Jahren wieder los", befürchtet er. In Mykolajiw war er mit seiner Familie gerade erst umgezogen, das neue Haus war frisch eingerichtet, als der Krieg losging. Aber das liege jetzt hinter ihnen. Momentan ist er noch auf der Suche nach einem Job in Deutschland, in seiner Heimat hat er als Puppenspieler und -bauer sein Geld verdient. Er blickt zuversichtlich auf seine Zukunft in Nürnberg, einen Deutschkurs hat er schon angefangen.

Wie viele der ukrainischen Juden wie Grosman noch nach Deutschland kommen und wie viele bleiben werden, ist unklar. Der deutsche Staat versucht, auch aus historischer Verantwortung heraus, die Einreise zu erleichtern. Jüdische Geflüchtete haben, zusätzlich zu der Massenzustrom-Richtlinie, die von der EU in Kraft gesetzt wurde, die Möglichkeit, als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzureisen. Der Vorteil: Sie können dauerhaft bleiben, während die EU-Richtlinie eine Aufenthaltsdauer von maximal drei Jahren erlaubt. Zusätzlich wurde die Kontingentflüchtlingsregelung für jüdische Ukrainer gelockert, Deutschkenntnisse vorzuweisen ist zum Beispiel nicht mehr verpflichtend.

Schuster ist dankbar für das "atemberaubende" Tempo, in dem diese Regeländerungen durchgesetzt wurden. Auch Grosman ist dankbar. Der IKG Nürnberg, die ihn und seine Familie so herzlich aufgenommen hat. Dem Arzt an der moldauischen Grenze, der sich um seine Frau und seine Töchter gekümmert hat. Und den Polizisten am Flughafen Memmingen, die seinen Töchtern bei der Ankunft Teddybären geschenkt haben. "Das hat mich wahnsinnig berührt", sagt Grosman und lächelt.

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