Ukraine:Krieg im Ferienlager

Ukraine: Ukrainischer Panzer bei Mariupol: Die Hafenstadt ist umkämpft, die Bewohner des Umlands leiden.

Ukrainischer Panzer bei Mariupol: Die Hafenstadt ist umkämpft, die Bewohner des Umlands leiden.

(Foto: AFP)

Die Gegend um Mariupol war bis vor kurzem ein beliebter Urlaubsort. Jetzt versuchen ukrainische Streitkräfte, die Hafenstadt gegen Separatisten zu verteidigen.

Von Florian Hassel, Schirokino

Bis vor ein paar Tagen hätten Iwan und Raissa Naskow nicht widersprochen, hätte man sie um ihr Leben beneidet. Gewiss, die Rente des pensionierten Fahrers war nicht hoch, das einstöckige Häuschen im Dorf Schirokino östlich der ukrainischen Hafenstadt Mariupol bescheiden. Doch dafür blickten die Naskows aus ihrer Straße direkt aufs Meer, ließ die auch in den vergangenen Wochen zuverlässig vom Himmel brennende Sonne die roten Weintrauben über ihrem Hof zuckersüß heranreifen. Das Leben in Schirokino, in dessen Ferienlagern am Strand gewöhnlich auch viele Familien und Schulkinder den Sommerurlaub verbringen, war für seine 1700 Einwohner eine weitgehend ungetrübte Idylle. Bis der Krieg nach Schirokino kam.

"Wenn wir Mariupol verlieren, haben wir den Krieg verloren"

Neun Tage ist es her, dass prorussische Rebellen, offenbar massiv unterstützt von der russischen Armee, am südöstlichsten Zipfel der Ukraine Nowoasowsk eroberten - ein verschlafenes Städtchen, aber eine wichtige Durchgangsstation: Im Osten, hinter der nahen Grenze zu Russland führen die Wege nach Rostow-am-Don, Aufmarschplatz des russischen Militärs und Nachschubbasis der Separatisten in der Ostukraine. Westlich von Nowoasowsk liegt Mariupol, Industrie- und Hafenstadt mit einer halben Million Einwohnern, die letzte Großstadt im Südosten der Ukraine, die - anders als Donezk oder Luhansk - noch unter Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte ist.

Mariupol ist das Kronjuwel im Südosten der Ukraine: Fiele die Stadt, wäre für die Separatisten und die sie stützende russische Armee eines der wichtigsten Hindernisse beseitigt, sollte Präsident Wladimir Putin tatsächlich beschließen, nach der Krim-Halbinsel weitere Teile der Ukraine zu erobern und sich die Kontrolle über einen Landweg auf die Krim zu sichern. Oder wie es der von Kiew eingesetzte Gouverneur der Region, Sergej Taruta, ausdrückt: "Wenn wir Mariupol verlieren, haben wir den Krieg verloren." Seit Nowoasowsk an die Rebellen gefallen ist, haben die ukrainischen Soldaten an den von Mariupol nach Nowoasowsk führenden Straßen fieberhaft Panzersperren ausgelegt und Minen vergraben, Gräben und improvisierte Bunker ausgehoben und ihre Straßensperren verstärkt.

Es ist kurz vor eins am Donnerstag, als die vorgerückten Separatisten die ukrainischen Stellungen östlich von Mariupol zum ersten Mal ernsthaft unter Feuer nehmen - und im Dorf Schirokino, das genau in der Mitte zwischen Ukrainern und Rebellen liegt, plötzlich die Hölle losbricht. Als Erstes wird ein Kinderferienlager am Dorfrand durch mehrere Granaten in eine Ruine verwandelt - die letzten Kinder sind indes schon vor Tagen abgereist.

Toter Nachbar vor dem Haus

Iwan und Raissa Naskow fliehen aus ihrem Häuschen ein paar Meter weiter zu Tochter Alla - die hat einen größeren Keller unter ihrem Haus. In den nächsten Stunden hören die Naskows etwa siebzig Bombeneinschläge - mal ein paar Kilometer entfernt, dann neben dem Dorf oder hinter ihrem Haus. Zweieinhalb Stunden später tritt Ruhe ein. Iwan, ein kräftiger Mann mit trotz seiner 63 Jahre noch überwiegend schwarzen Haaren, verlässt den Keller, um Luft zu schnappen und bei seinem Haus nach dem Rechten zu sehen. Die nächste Granate, offenbar von einer ukrainischen Stellung auf die hinter dem Dorf stehenden Rebellen abgefeuert, explodiert direkt vor Iwan Naskows Haus.

Nachbar Wladimir Pus findet Iwan Naskows Leiche vor seinem Haus, sie liegt am Straßenrand, das Blut hat den Straßenstaub durchtränkt. Pus und andere Nachbarn müssen eine Weile suchen, bis sie Iwan Naskows Kopf finden, den die Explosion vom Rumpf getrennt hat.

Mariupol und Nowoasowsk trennen gut 40 Kilometer - ein weitgehend ausgestorbenes Niemandsland mit wenigen kleinen Dörfern und abgeernteten Feldern. Ab und zu erinnert ein Feld vertrockneter Sonnenblumen daran, dass mancher Bauer in den vergangenen Monaten anderes zu tun hatte, als sich um die Bewässerung seiner Felder zu kümmern. Viele Felder sind von schwarzer Asche überzogen - die ukrainische Armee wünscht bestmögliche Sicht, um den Feind möglichst früh kommen zu sehen, und hat die Felder und von Gras bewachsenen Straßenränder abgeflämmt.

Ukraine Landkarte Mariupol
(Foto: SZ-Grafik)

"Die Befreiungsarmee Neurusslands grüßt euch"

Die Separatisten haben aufgerüstet - und das nicht nur bei der Kunst der Tarnung. Neun Kilometer nördlich von Nowoasowsk muss der Beobachter schon bis auf einige Hundert Meter herankommen, bis er erkennt, dass er an einer Straßenkreuzung eine große Einheit der Separatisten vor sich hat. Fünf Panzer warten mit ihren bestens bewaffneten Besatzungen auf den weiteren Marschbefehl, dazu Spähfahrzeuge russischer Produktion, getarnte Militärlastwagen und mehrere Hundert mit modernen Maschinenpistolen, Schultergranaten und anderer Munition ausgerüstete Rebellen. "Nach Kiew! Für Donezk!" hat eine Besatzung neben der rot-blau-weißen-Flagge der von den Separatisten erwünschten Region "Neurussland" auf ihren Panzer gesprüht.

Auch Nowoasowsk selbst macht vor allem den Eindruck einer Durchgangsstation für den weiteren Vormarsch. Am Ortseingang haben die Rebellen im Geschäft "Autowelt" einen provisorischen Stab aufgeschlagen. Dort sind gerade drei weitere Panzer eingetroffen, dazu mehrere gelb gestrichene Schulbusse. In denen sitzen freilich keine Schulkinder, sondern Dutzende weitere bestens ausgerüstete Rebellen, die auf weitere Marschbefehle warten. Ein Offizier in Uniform ohne Rangabzeichen, der sich das Halstuch vors Gesicht zieht, prüft die Dokumente des Korrespondenten und lehnt ein Interview in akzentfreiem Russisch ebenso höflich wie bestimmt ab. "Wir haben im Moment anderes zu tun. Interviews gibt's frühestens in einer Woche."

Deeskalation trotz Sanktionen

Zwar berät die EU darüber, Russland mit Sanktionen wirtschaftlich abzustrafen. Gleichzeitig aber nimmt sie nun von einem Freihandelsabkommen mit der Ukraine vorerst Abstand - um Russland nicht zu sehr zu verärgern, aber auch um den beidseitig profitablen Handel mit Russland nicht noch zusätzlich zu belasten. "Wir haben hier sehr viel über das Freihandelsabkommen gesprochen", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Nato-Gipfel in Wales. Und "wie man da vielleicht auch mit Russland Kompromisse finden" könnte. Moskau behauptet, eine europäisch-ukrainische Freihandelszone könne die eigene Wirtschaft, die vor allem staatlich gestützte Produkte in die Ukraine ausführt, zusammenbrechen lassen. Ende Juni hatten die Ukraine und die EU dennoch den Vertrag unterzeichnet - was den Konflikt mit Russland verschärfte. Die Ratifizierung wurde aber verschoben. Moskau hat inzwischen einen Katalog mit Bedingungen an die EU-Kommission geschickt, zu denen es die europäisch-ukrainische Zusammenarbeit in Handelsfragen akzeptieren würde. In Brüssel heißt es, die Liste sei so lang, dass sie das Abkommen praktisch aushöhle. Der geplante Abbau von Zollschranken werde darin untersagt - weshalb europäische Firmen keine Chance auf Exporte bekämen. Erkläre sich die EU einverstanden, überlasse sie den Markt den Russen. Zugleich wurde darauf verwiesen, dass den Europäern der russische Markt ohnehin wichtiger sei. Daniel Brössler, Cerstin Gammelin

Über dem Verwaltungssitz, die Nowoasowsk und die umliegenden Dörfer verwaltet, hängt statt der ukrainischen die Flagge Neurusslands. Der Verwaltungschef darf sich seit Donnerstag als in einen "unbefristeten Urlaub" versetzt betrachten, stattdessen hat ein Vertreter der Rebellen die Macht übernommen. "Brüder und Schwestern! Die Befreiungsarmee Neurusslands grüßt euch. Wir sind ernsthaft und auf lange Zeit gekommen", verkünden Bekanntmachungen der Separatisten die Ankunft der neuen Macht. "Glaubt den Gerüchten nicht, dass wir die Stadt im Stich lassen werden. Unsere Aufgabe ist, weiter vorzurücken - eure Aufgabe, ein friedliches, ehrliches und würdiges Leben aufzubauen."

Die Organisation des würdigen Lebens freilich überlassen die Rebellen, wie schon zuvor etwa in Donezk, lieber den eingesessenen, von Kiew bezahlten Beamten. Oder genauer: bisher von Kiew bezahlten Beamten. "Das größte Problem ist, dass mit dem Auftauchen unserer russischsprachigen Gäste alle Banken bei uns sofort geschlossen haben", sagt Pawel Andrijenko, der Vorsitzende des Bezirksparlamentes, den die Rebellen bisher in Amt und Büro gelassen haben. "Auch die staatliche Finanzkasse arbeitet nicht mehr, die die Beamtengehälter, Renten und Kindergelder überweist. Theoretisch können wir das Geld in allen Städten abholen, die noch unter Kontrolle Kiews sind. Aber dahin muss man erst einmal kommen."

Kindergärten, Kohl, Kartoffeln

Auch die Stadtverwaltung hat seit der Ankunft der Rebellen finanzielle Probleme, weshalb sich der Bürgermeister und seine Stellvertreter nun den Kopf zerbrechen. Am Montag wollen Wladimir Orlowskij und seine Kollegen die fünf städtischen Kindergärten wieder für 300 Kinder öffnen. Doch die Lebensmittelgroßhändler sitzen in Mariupol - und bestehen nun auf Vorkasse, bevor sie einen Lastwagen durch die Linien schicken.

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Die Organisation des würdigen Lebens: Vor Geldautomaten in Mariupol bilden sich lange Schlangen.

(Foto: AFP)

Orlowskijs Stellvertreter Alexander Katschukow immerhin hat einer lokalen Milchfirma das Versprechen abgerungen, die Kindergärten auf Rechnung zu beliefern; der Bürgermeister selbst hat 200 Kilo Kohl eingetrieben. "Morgen kümmern wir uns um die Kartoffeln", sagt er. Ein paar Hundert Meter weiter ertönt Geschützlärm - unklar bleibt, wer auf wen geschossen hat. "Ich hätte nie gedacht, dass der Krieg auch zu uns kommt", sagt Parlamentsvorsitzender Andrijenko. "Wenn unsere Häuser zerstört werden, wird es niemand geben, der sie wieder aufbaut."

Geschützlärm und Explosionen sind noch zehn Kilometer entfernt zu hören

Auch in Mariupol stehen Alltagsleben und Krieg unvermittelt nebeneinander. Bis zum Freitag sind fast alle Geschäfte geöffnet. Nur die Besitzer des "Hauses des Geschirrs" und der Juweliergeschäfte "Silber Plus" und "Goldenes Jahrhundert" sind nervös geworden - und haben über Nacht ihre Geschäfte geräumt. Gouverneur Sergej Taruta inspiziert kamerawirksam ukrainische Stellungen und versichert, alles sei unter Kontrolle. Das überzeugt freilich umso weniger Einwohner, als Taruta ähnliche Versicherungen schon an seinem eigentlichen Amtssitz in Donezk wiederholte, bevor ihn die Rebellen der "Volksrepublik Donezk" vor Monaten von dort vertrieben.

Auch der Bürgermeister von Mariupol wird trotz der Durchhalteparolen des Gouverneurs nervös: Am Freitag schickt er alle Schulkinder der Stadt nach Hause. Keine zwei Stunden später beginnen die ukrainischen Streitkräfte mit heftigen Angriffen auf die Stellungen der Separatisten östlich von Mariupol. Geschützlärm und Explosionen sind noch zehn Kilometer entfernt am Hafen der Stadt zu hören. Die Gäste, die gegenüber vom Hotel Poseidon lautstark eine Hochzeit feiern, lassen sich vom Geschützlärm indes nicht stören.

Trotz Waffenstillstand sieht es nicht nach Frieden aus

Wladimir Sadaroschnij hat als Offizier erst der sowjetischen, dann der ukrainischen Armee gedient, bevor er nach drei Jahrzehnten Dienst in den Ruhestand trat. Noch immer pflegt er gute Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen. Nur wenige Stunden, bevor die ersten Bomben fielen, hat Sadaroschnij bei einer patriotischen Demonstration gesprochen. Optimistisch ist der 65-Jährige nicht. "Unsere Armee ist nur noch ein Schatten sowjetischer Tage; uns fehlen sowohl erfahrene Soldaten und Offiziere wie schwere Waffen - und Putin kann eine ganze Armada gegen uns losschicken." Auch bei einem Waffenstillstand, glaubt Sadaroschnij, werde Russlands Präsident nicht davon ablassen, nach der Krim auch weitere Teile der Ukraine zu erobern. "Der Wolf hat Blut geleckt - und wird jetzt nicht mehr haltmachen. Putin sieht sich als Zar, der verlorene russische Erde zurückholt. Die lächerlichen Sanktionen, die der Westen gegen ihn beschließt, sind ihm dann gleichgültig."

In Schirokino haben die Nachbarn die sterblichen Überreste von Iwan Naskow, eingeschlagen in eine Wolldecke, in den kleinen Hof vor dem Haus von Tochter Alla gebracht und vor der Garage abgelegt. "Unser Enkel weiß noch nichts von Iwans Tod - wenn er uns das nächste Mal besucht, wird er nicht verstehen, wo der Opa geblieben ist", sagt Raissa Naskow und schluchzt. An der Hauswand lehnt der Sargdeckel, bezogen mit rotem Samt, doch die Beerdigung muss warten. Der Friedhof des Dorfes liegt in der Nähe der Hauptstraße zwischen Mariupol und Nowoasowsk - dort wird das Feuer der Granaten höchstens für ein paar Minuten unterbrochen. Am Vormittag wird ein weiterer Einwohner von Schirokino von Granatsplittern getroffen.

In Kiew und Moskau verbreiten die Pressedienste der Präsidenten am Freitag Meldungen über einen Waffenstillstand, der dann am Abend in Kraft tritt. Doch nicht nur in Schirokino sieht es bisher nicht nach Frieden aus.

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