Süddeutsche Zeitung

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine:"Das müssen wir schaffen"

Ein provisorisches Kinderkrankenhaus, Bahnhöfe im Dauereinsatz, verärgerte Bürgermeister: Die Aufnahme Geflüchteter bringt Deutschland an Grenzen. Schon jetzt.

Von Markus Balser, Constanze von Bullion und Jan Heidtmann, Berlin

Der Notruf kam am Donnerstagabend. 72 Personen, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie gehörte Heinz Hilgers, dem Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes. Allein 32 Kinder seien unterzubringen, davon 24 mit geistiger oder körperlicher Behinderung, sieben bettlägerig. Die Zeit dränge. Die Kinder stammten aus der Gegend von Saporischschja in der Ukraine, wo kürzlich ein Atomkraftwerk beschossen wurde. Sie seien mit ihren Müttern vor den russischen Truppen nach Lwiw an der polnischen Grenze geflohen, müssten in Sicherheit gebracht werden. Aber sie dürften nur nach Deutschland reisen, wenn dort ein Bürgermeister die Verantwortung übernehme. Sofort.

"Mein erster Gedanke war natürlich: Das schaffen wir nie", sagt Erik Lierenfeld. "Der zweite war: Das müssen wir schaffen." Lierenfeld ist 35, Bürgermeister in Dormagen am Rhein, Sozialdemokrat von der anpackenden Sorte. Also gut, die Kinder könnten anreisen, sagte er, auf sein eigenes, also des Bürgermeisters Risiko. Dann trommelte er Feuerwehr, Arbeiterwohlfahrt, Handwerksbetriebe und Ehrenamtler zusammen. Am Ende waren es mehr als hundert Personen.

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Binnen zwei Tagen haben sie dann in Dormagen eine alte Schule umgebaut, für ein bisschen Privatsphäre Trennwände eingezogen und Fenster abgeklebt, Krankenhausbetten hineingeschleppt. Dann rollten sie an, sieben Kleinbusse mit 34 der insgesamt 72 angekündigten Personen - in sprachlosem Entsetzen. "Die Kinder waren mucksmäuschenstill. Es war gespenstisch", sagt Lierenfeld. Er hat jetzt ein paar Fragen an die Bundesinnenministerin.

Denn der Bürgermeister der 65 000-Einwohner-Stadt sucht nun nicht nur für die behinderten Kinder Betreuungsplätze. Er lässt auch in die dritte Turnhalle der Stadt Wohnkabinen einbauen und bestellt immer neue Toilettencontainer, Stückpreis inzwischen 35 000 Euro. Mehr als 330 Geflüchtete sind schon da, ständig kommen neue Anrufe, weil in Großstädten wie Köln kein Feldbett mehr frei ist. Chaotisch, ungerecht verteilt, Finanzierung völlig unklar. So sieht es Lierenfeld.

Die Ankömmlinge dürfen sich frei bewegen. Das steht ihrer Registrierung entgegen

Auch andere Bürgermeister befürchten ein Ende der Hilfsbereitschaft, weil sich viele Kommunen alleingelassen fühlen vom Bund. Täglich erreichen etwa 15 000 Ukrainerinnen und Ukrainer Deutschland, mehr als 175 000 Geflohene haben die Behörden insgesamt schon gezählt - und es dürften rasch mehr werden. Auch wenn Staaten wie Polen wesentlich mehr Menschen aufgenommen haben als Deutschland, sagte ein Sprecher der Bundesregierung am Mittwoch: "Wir wissen, da kommt einiges auf uns zu."

Der Druck wächst, auch auf Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Sie müsse die Verteilung Geflüchteter besser steuern, finden Vertreter von Städten und Gemeinden. Nur, so einfach ist das wohl nicht. Am Mittwoch stand die Ministerin bei einer Fragestunde im Bundestag. Warum, wollten Abgeordnete von ihr wissen, wurden Geflüchtete nicht von vornherein nach dem Königsteiner Schlüssel über die Bundesländer verteilt? Und wieso, erkundigten sich Union und AfD, werden sie nicht systematisch registriert von den Behörden, aus Sicherheitsgründen?

Faeser lobte erst einmal die beteiligten Behörden, die Bürgerleute und die Bundespolizei, die "einen großartigen Job" machten. Wieder und wieder erklärte die Innenministerin dann den Rechtsstatus der Ukraine-Flüchtlinge: Er unterscheide sich von dem der Syrien-Flüchtlinge des Jahres 2015. Wer aus der Ukraine mit einem biometrischen Pass einreist, kann sich 90 Tage lang ohne Visum frei bewegen in Deutschland, auch unkontrolliert in andere EU-Staaten weiterreisen.

Anders als die Syrien-Flüchtlinge, denen bestimmte Asylbewerberheime zugewiesen wurden, können Ukrainer sich zunächst aufhalten, wo sie wollen. Erst wenn sie Leistungen vom deutschen Staat beantragen, würden ihre Personaldaten zentral registriert und sie an bestimmte Erstaufnahmeeinrichtungen verwiesen, so Faeser. Angesichts der vielen Frauen und Kinder geben es im Übrigen keinen Grund, die Sache zu einem Sicherheitsproblem "aufzubauschen".

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Doch es bleiben offene Fragen. Sie sollen bei einer eilig einberufenen Bund-Länder-Schalte am Donnerstag diskutiert werden. Zwar ist inzwischen geklärt, dass die Flüchtenden nach festen Quoten verteilt werden. Doch wer übernimmt den Transport, wer trägt die Kosten?

Franziska Giffey bat fast flehentlich um Hilfe

"Angesichts der gigantischen Aufgabe muss auch der Bund aktiver werden", sagte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) der Süddeutschen Zeitung. "Wir brauchen eine bundesweite Koordinierung von Hilfen und Unterbringung - und es wird auch Geld brauchen". Strobl fordert vom Bund auch mehr Engagement in der Sicherheitspolitik. Es sei "dringend notwendig, dass der Bund sich bei der Registrierung und den Sicherheitsüberprüfungen mehr engagiert". Andernfalls könnten sich Extremisten unter die Schutzsuchenden mischen.

Wie stark einzelne Länder unter Druck sind, erfuhren vergangene Woche etwa die mehr als 110 000 Beschäftigten des Landes Berlin. Sie bekamen Post von der Chefin. Darin bat die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) fast flehentlich um Unterstützung, um die große Zahl an Geflüchteten zu bewältigen. Gesucht wurden 420 Freiwillige als Betreuer am früheren Flughafen Tegel. Tausende fliehen täglich nach Berlin. Ein Ende ist nicht in Sicht.

"Inzwischen ist der Bund wach geworden", lobte Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) zwar. "Aber da ist noch Luft nach oben." Immerhin, die Bundeswehr habe nun 80 Soldaten zur Unterstützung angeboten. Kritik am fordernden Auftreten Berlins kontert die Senatorin mit Zahlen. Nacht für Nacht schaffe die Stadt 1000 zusätzliche Schlafplätze. "Diese Zahlen will ich erst einmal aus anderen Bundesländern hören."

Kleine und mittlere Kommunen wiederum wollen das Augenmerk auch mal weg von den Metropolen lenken. "Ich habe mich maßlos geärgert", sagt Dormagens Bürgermeister Lierenfeld und meint damit Innenministerin Faeser. Sie habe zunächst den Eindruck erweckt, die Verteilung der geflohenen Menschen könnten die Kommunen schon irgendwie unter sich ausmachen. "Ich erwarte, dass man sich um die Verteilung kümmert und an den Bahnhöfen großer Metropolen eine koordinierte Übergabe an die Kommunen stattfindet." Nötig sei außerdem eine Zusage, dass die Flüchtlingskosten erstattet werden.

In Sachsens Landeshauptstadt Dresden werden derweil die Grenzen der Planbarkeit offenbar. Wann wie viele Flüchtlinge ankommen? Man tappe oft selbst im Dunkeln, heißt es in der Landesregierung. Am Wochenende etwa wurden die Landesbehörden kurzfristig aus Polen informiert, dass in Kürze zwei Züge mit 300 und 400 Flüchtenden über die Grenzen rollen würden. Die Behörden stellten sich auf eine größere Lage ein. Als die Züge dann ankamen, war die Überraschung groß. Es saßen gerade einmal elf Menschen aus der Ukraine darin. Die übrigen waren offenbar anderswo ausgestiegen.

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