Es war ein gewaltiger Unterschied, als europäische Rechnungsprüfer nachdachten, wie die Ukraine dastehen würde, wenn es seine durchdringende Korruption wenigstens auf EU-Durchschnitt verringern würde: Statt bei Wirtschaft- und Lebensniveau noch jahrzehntelang auf nur 30 Prozent des EU-Niveaus zu verharren, könnten sich die Ukrainer immerhin zur Hälfte des EU-Durchschnitts emporschwingen. Doch davon sind die 38 Millionen Ukrainer weit entfernt, legt ein Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes (ECA) zur Ukraine und der Rolle der EU nahe.
Seit über zwei Jahrzehnten versucht die EU, ihren "strategischen Partner" Ukraine zu fördern: mit Zuschüssen, Krediten und immer neuen Berater- und Förderprogrammen. Doch noch immer teilen Oligarchen, hohe Staatsdiener und korrupte Staatsanwälte und Richter den Staat unter sich auf, verschwinden Milliarden ins Ausland, ist die Ukraine mit wenigen Ausnahmen beim Aufbau eines Rechtsstaates ebenso wenig vorangekommen wie beim Kampf gegen die Korruption, so der ECA-Bericht "Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine".
Ukraine:Arm und stolz und blutend
Mit großem Pomp feiert das Land seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion vor 30 Jahren - und versucht trotzig, seine von Russland annektierten Gebiete zurückzubekommen. Doch Kremlchef Putin schafft längst Fakten.
Die EU ist Kiews größter Geldgeber. Allein in den letzten fünf Jahren hat sie einschließlich Krediten, Garantien und etlichen Programmen rund 15 Milliarden Euro bereitgestellt. Und dem 2014 unterschriebenen Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU sowie einem Freihandelsabkommen zufolge stehen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung im Vordergrund. So weit das Papier.
In der Realität ist wenig geschehen. Die EU hat nicht einmal die Ursachen der Großkorruption - Steuerbefreiungen, Monopole, die Vereinnahmung des Staates, Eigentumsverhältnisse von Unternehmen, die Finanzen von über 3500 oft notorisch ineffizienten und als Selbstbedienungsladen dienenden Staatsbetrieben - systematisch erforscht, keine Strategie entwickelt, geschweige denn wirksame Maßnahmen durchgesetzt.
Aus den Erkenntnissen der EU folgte in der Regel: nichts
Zwar sei sich die EU "der zahlreichen Verbindungen zwischen Oligarchen, hochrangigen Beamten, der Regierung, dem Parlament , der Justiz und den staatseigenen Unternehmen sehr wohl bewusst". Nur: Es folgte nichts daraus. Juhan Parts war in seiner Heimat Estland erst oberster Rechnungsprüfer, dann Ministerpräsident, schließlich Wirtschaftsminister. Heute ist er Mitglied des Europäischen Rechnungshofes und prüft sowohl die Ukraine wie die Länder des westlichen Balkan mit. In der Ukraine, schätzt Parts, dass Oligarchen und mit ihnen verbundene Personen "Milliarden" zu unrecht erlangten Geldes in der EU gewaschen haben, ob mit dem Kauf von Immobilien oder auf Banken der EU.
Trotzdem, so der Bericht, gibt es "keine Einreisesperre in die EU für der Großkorruption verdächtige Ukrainer" und keine Maßnahmen, die sie "hindern, Zugriff auf ihre Vermögenswerte in der EU zu haben", im Klartext; das Einfrieren von Bankkonten oder die Beschlagnahme von Immobilien. Hier müsse die EU-Kommission mit EU-Ländern und internationalen Partnern dringend handeln, . "Wenn der politische Wille vorhanden ist, könnte hier schnell etwas passieren", sagt Parts.
Generell sehe die EU Reformen schon durch die Annahme eines Gesetzes erreicht, achte aber kaum je auf Umsetzung oder Folgen in der Realität. Besonders deprimierend sind die Erkenntnisse zum Rechtsstaat. Nach über zweieinhalb Jahrzehnten Reformversuchen ist die Justiz immer noch durchgehend korrupt, sind etliche Staatsanwälte und 3400 Richter nicht auf Korruption überprüft, geschweige denn gefeuert. Das gelte fast für die gesamte Spitze des Justizsystems.
Eine Folge: Das Verfassungsgericht, das eine Historie der Korruption aufweist und gegen dessen Präsidenten aktuell ermittelt wird, erklärte Kerngesetze gegen Korruption für verfassungswidrig. Über 100 Ermittlungen und 17 Gerichtsverfahren gegen mutmaßlich korrupte hohe Staatsdiener mussten eingestellt werden.
Niemand wurde wegen "unrechtmäßiger Bereicherung" verurteilt
Generell müssen die meisten Staatsdiener seit einigen Jahren ihr Vermögen offenlegen. Doch 2019 wurden von gut 900 000 Erklärungen gerade 0,1 Prozent geprüft, wurde niemand wegen "unrechtmäßiger Bereicherung" verurteilt. Zwar fanden die Prüfer auch Positives, das mit EU-Geld und -expertise möglich wurde: ein Nationales Anti-Korruptions-Büro, ein Hoher Gerichtshofes für Korruptionsverfolgung, Reformen beim Gaskonzern Naftogaz oder die Aufdeckung von Korruption durch EU-geförderte Bürgerrechtler und Medien.
Doch angesichts der an den meisten Stellen weiterhin korrumpierten Justiz verpufft die Arbeit der echten Reformer. "Es ist wie beim Bau eines Hauses", sagt Rechnungshofmitglied Parts. "Wenn das Fundament noch fehlt, hat es keinen Sinn, über den Einbau von Fenstern im sechsten Stock nachzudenken."