Kriminalität:Der erfolglose Kampf gegen Korruption in der Ukraine

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Nicht alle haben vergessen, was 2014 auf dem Maidan versprochen wurde. Diese Aktivisten erinnern den Präsidenten daran. (Foto: Efrem Lukatsky/AP)
  • Nach der Revolution auf dem Kiewer Maidan hieß es 2014: Mit der im Land grassierenden Korruption solle Schluss sein.
  • Das 2015 gegründete Antikorruptionsbüro Nabu hat Dutzende Staatsdiener vor Gericht gebracht. Doch in den hochrangigen Fällen wurde Nabu-Chef Sitnik zufolge nicht einer verurteilt.
  • Die ukrainischen Gerichte gelten selbst als notorisch korrupt.
  • Die Gründung eines Antikorruptionsgerichts (AKG) wurde erst jahrelang verschleppt, ein vor Kurzem verabschiedetes Gesetz dann durch Zusätze zahnlos gemacht.

Von Florian Hassel, Kiew

Artem Sitnik hat auf den ersten Blick alles, was man braucht, um korrupten Staatsdienern das Handwerk zu legen. Sitnik ist Chef des ukrainischen Antikorruptionsbüros (Nabu) und gebietet über 650 Mitarbeiter. Seine Detektive ermitteln, wenn hochrangige Staatsdiener massiver Korruption verdächtig sind: Manager großer Staatsfirmen, Richter, Staatsanwälte, Abgeordnete, Bürgermeister und Minister. Doch eines fehlt Sitnik: dass jemand vor Gericht gestellt und verurteilt wird.

Früher war Sitnik Chefermittler der Staatsanwaltschaft in der Region Kiew. Dann habe ihm sein Vorgesetzter befohlen, einen Beamten freizulassen, den Sitnik nach Annahme von 240 000 Euro Schmiergeld verhaftet hatte. Der Beamte war ein guter Bekannter des Gouverneurs. Sitnik hatte genug von Justiz im Dienst der Mächtigen - und kündigte. Es war der Sommer 2011. "Ich war mir sicher, dass ich nie in den Staatsdienst zurückkehren würde."

Doch 2014 kam die Revolution auf dem Kiewer Maidan. Mit der Korruption solle Schluss sein, versicherte der neue Präsident Petro Poroschenko. Entschlossene Reformen sollten sie beenden, die Ukraine an die EU heranführen und kreditwürdig machen. 2015 wurde mit Unterstützung Washingtons und der EU das Antikorruptionsbüro Nabu gegründet, der 35-jährige Sitnik wurde erster Direktor.

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Mit den kurzen Haaren, dem grünen Armeepullover und seinen militärisch knappen Antworten wirkt Sitnik wie ein Offizier im Kampf gegen übermächtige Gegner. Tatsächlich hat der Nabu-Chef vor Gericht noch keine einzige Schlacht gewonnen. "Anklagen wie unsere gab es in der ukrainischen Geschichte noch nie", sagt er. "Wir haben bisher 140 Staatsdiener vor Gericht gebracht. Doch in den wirklich hochrangigen Fällen wurde nicht einer verurteilt. Unsere Ermittlungen werden behindert, Anklagen bei Gericht eingefroren, gar nicht behandelt oder verschleppt."

Brisante Prozesse werden in der Ukraine oft beeinflusst, manchmal werden Urteile gekauft. Die Gerichte gelten als notorisch korrupt, bis hinauf zum Verfassungsgericht. Dessen Richter erhielten unter dem früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch Bestechungsgeld in Millionenhöhe. An der Korruption hat sich wenig geändert. Nabu-Detektive stießen auf Dutzende Richter, deren Gehälter ihre Villen und Luxusautos nicht erklären können. "Korrumpierte Richter, über die es Belastungsmaterial gibt, sind leicht von der ukrainischen Führung zu kontrollieren", sagt Witalij Titich vom Öffentlichen Integritätsrat, einer Bürgergruppe für Justizreform.

"Faktisch Straffreiheit für alle Prominenten"

Richter, die unbestechlich sind, werden unter Druck gesetzt. Im Frühjahr 2017 nahmen Nabu-Detektive den politisch enorm einflussreichen Ex-Parlamentarier Mykola Martynenko fest, wegen des Verdachts auf Unterschlagung von mehr als 20 Millionen Euro Staatsgeldern. Ukrainer ohne hoch reichende Kontakte kommen - und bleiben - schon bei einem Diebstahl im Wert von mehr als 20 Dollar oft in U-Haft. Doch im Fall Martynenko "kamen 15 Parlamentarier und drei amtierende Minister in den Gerichtssaal und setzten den Richter unter Druck", erzählt Nabu-Chef Sitnik. Der Ex-Parlamentarier wurde gegen das Wort der Minister und Abgeordneten auf freien Fuß gesetzt.

"Vier Jahre nach dem Maidan gilt in der Ukraine immer noch faktisch Straffreiheit für alle Prominenten. Nicht einer ist hinter Gittern", sagt Reformpolitiker Jegor Soboljew. "Und solange die Ukraine kein unabhängiges Gericht erhält, das nur massive Korruption hoher und höchster Staatsdiener verhandelt, wird sich nichts ändern."

Eigentlich sollte es seit Jahren ein eigenes Antikorruptionsgericht (AKG) geben: unabhängig vom übrigen Gerichtssystem, mit unbelasteten, gut bezahlten Richtern, die nur gegen mutmaßlich korrupte hohe Amtsträger verhandeln. "Wenn die Richter des AKG statt 700 Verfahren fünf oder sechs betreuen müssen, werden unsere Anklagen endlich schnell verhandelt und entschieden", hofft Sitnik.

Doch im Parlament hat Soboljew als Vorsitzender des Antikorruptionsausschusses erlebt, wie Präsident Poroschenko und Verbündete die Gerichtsgründung verschleppten. "Erst wurden Maidan-Reformer 2016 mit einem Gesetzentwurf zum AKG vom Präsidialapparat Monate an der Nase herumgeführt", berichtet Soboljew. Im Februar 2017 reichte der Ausschussvorsitzende einen Gesetzentwurf ein. "Wieder verhinderten Gefolgsleute des Präsidenten die Beratung systematisch - mehr als ein Jahr."

Soboljew empfängt in einem winzigen Zimmer, in das eben zwei Schreibtische hineinpassen. Der 41-Jährige ist nicht mehr Ausschussvorsitzender, er war der Regierungsmehrheit zu unbequem. Das Parlament dient vielen Abgeordneten nur als Bühne, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen - ein Mandat kostet bis zu fünf Millionen Dollar.

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Im Winter 2017/2018 harrten Aktivisten monatelang vor dem Parlament aus und forderten, das Antikorruptionsgericht zu schaffen. Soboljew unterstützte sie draußen per Megafon und als Abgeordneter im Plenarsaal. Als Ausschussvorsitzender blockierte er Versuche, Nabu-Chef Sitniks Entlassung möglich zu machen. Als Quittung wurde Soboljew im Dezember 2017 abgesetzt. "Viele Parlamentskollegen verstehen eines nur zu gut: Wenn sie ein unabhängiges Antikorruptionsgericht schaffen, finden sich etliche von ihnen dort als Angeklagte wieder."

Präsident Poroschenko, dessen Finanzgebaren seit den von der SZ veröffentlichten Panama Papers wegen seiner Offshore-Firmen Zweifel weckt, kann selbst bei Korruptionshinweisen nicht angeklagt werden. Aber schon, wenn er aus dem Amt scheidet. Das Präsidialamt beantwortete Anfragen für ein Interview nicht.

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Nach Druck durch Kiews Kreditgeber, vor allem des Internationalen Währungsfonds (IWF), beschloss das Parlament Anfang Juni endlich ein AKG-Gesetz. Reformer feierten es als Durchbruch - bis sie den Text lasen. Eine Stunde vor der Abstimmung war ohne Wissen der meisten Abgeordneten ein Zusatz ins Gesetz geschmuggelt worden, nach dem alle Berufungen gegen Urteile des künftigen AKG durch Kiews normale, korrumpierte Gerichte entschieden würden.

Zudem sollte das AKG nur künftige Korruptionsfälle verhandeln - vorliegende Anklagen und laufende Prozesse sollten an normalen bisherigen Gerichten beendet werden. Als der IWF klargemacht hatte, Kiew werde so keinen Dollar Kredit erhalten, nahm das Parlament diese Änderung am 12. Juli angeblich zurück, der Gesetzestext selbst ist aber noch nicht veröffentlicht worden.

Anwalt Witalij Titich verspricht sich wenig Gutes vom kommenden Antikorruptionsgericht. Titich hat miterlebt, wie eine von großen Hoffnungen begleitete Reform scheiterte - die Neubesetzung des Obersten Gerichts. Seine Kanzlei liegt im schicken Kiewer Stadtteil Podil. Doch seit Titich 2016 Koordinator des Integritätsrats wurde, kam er kaum zu seinem Anwaltsjob.

Anfang 2018 hatte die Ukraine das durch Korruption und politische Kontrolle diskreditierte Oberste Gericht mit 115 Richtern komplett neu besetzt. "Doch die Reform war eine große Illusion", lautet Titichs Fazit. "Das neue Oberste Gericht wird politisch ebenso kontrolliert wie das alte." Eine Kommission alter Richter hat die neuen ausgesucht, mit einem Punktesystem. "Von 1000 Punkten konnte die Auswahlkommission 790 Punkte willkürlich und geheim vergeben. So wurden hoch qualifizierte Richter, bei denen es kein Anzeichen für Bestechlichkeit gab, aussortiert. Wahrscheinlich galten sie als potenziell zu unabhängig", sagt Titich.

Anders lief es bei korrumpierten Kandidaten. "Wir haben gegen Dutzende Veto eingelegt: gegen Richter, deren Vermögen viel größer war, als sie es mit ihren Gehältern erklären konnten, die früher Unrechtsurteile fällten oder anders diskreditiert waren", erzählt Titich. "Aber 30 dieser Richter wurden durchgewinkt. 27 hat Poroschenko bereits ans Oberste Gericht berufen. Das Prinzip, die Justiz mit korrumpierten Richtern zu kontrollieren, wird fortgeführt. Beim Antikorruptionsgericht wird es nicht anders sein."

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Zwar sollen an der Auswahl der AKG-Richter westliche Experten teilnehmen. Doch wie beim Obersten Gericht wählen nicht sie aus, ihr Veto kann dieselbe Kommission überstimmen, die das Oberste Gericht bestimmt. Mehr noch: Ukrainische Fachleute wie Titich und seine Kollegen vom Öffentlichen Integritätsrat, der Antikorruptionsgruppe oder Transparency International sollen bei der Auswahl ausgeschlossen bleiben. "Auch das AKG wird nur eine Fassadeninstitution", meint Titich.

Nicht nur die Besetzung des Gerichts steht in Zweifel, sondern auch, wie viele Anklagen es überhaupt erreichen werden. Das Parlament erschwerte die Verfolgung von Korruption durch Änderungen der Strafprozessordnung: Ermittlungen müssen selbst in Korruptionsfällen, bei denen Ketten von Tarnfirmen im In- und Ausland eine Rolle spielen, in sechs Monaten beendet sein. Polizei und Ermittler dürfen Gutachten nur noch nach richterlicher Zustimmung beauftragen.

Mutmaßliche Straftäter müssen schon von einem Verdacht gegen sie informiert werden - und können gegen den Verdacht klagen. Das Gericht kann entscheiden, dass er unberechtigt ist und weitere Ermittlung, Anklage und Prozess verhindern. "Dieser rechtsstaatlichen Standards widersprechende Nonsens hat nur den Sinn, unsere Arbeit maximal zu erschweren", sagt Nabu-Chef Sitnik.

Abgehörten Gesprächen zufolge blockierte der Staatsanwalt Ermittlungen

Schon zuvor erlebten er und seine Detektive, dass der Sonderstaatsanwalt, der ihre Ermittlungen prüft und formell Anklage erheben kann, dies oft verweigerte, selbst wenn nach Ansicht der Ermittler harte Beweise vorlagen. Nabu hörte Sonderstaatsanwalt Nasar Cholodnitzky in dessen Büro über ein Mikrofon ab, das im Aquarium an einem Schiffswrackmodell saß. Den Gesprächen zufolge blockierte der Sonderstaatsanwalt Ermittlungen oder Anklagen gegen viele Prominente, wie der Bericht einer Disziplinarkommission bestätigte. Doch er ist weiter im Amt.

Sitniks Stuhl dagegen wackelt. Laut Gesetz kann der Nabu-Chef nur abgesetzt werden, wenn eigens ernannte Prüfer massive Verfehlungen in der Behörde feststellen. Die Prüfer müssen über Erfahrung in westlichen Polizei- oder Justizinstitutionen verfügen. Doch Präsident Poroschenko und seine Parlamentarier missachteten das Gesetz - und ernannten Ende Juni mit Pavlo Schebriwskij einen alten Bekannten Poroschenkos zum Nabu-Prüfer.

Der Nabu-Chef hat keine Illusionen. "Der Großteil der politischen Elite will keine Änderung, sie will weiterleben nach den Regeln, die bis zum Maidan galten: politisch kontrollierte Polizei und Justiz, die mit korrupten Mustern den Haushalt plündern und die Wirtschaft unter Druck setzen. Sie wollen mich loswerden und Nabu begrenzen. Wir werden immer unter Druck stehen", sagt Sitnik. "Wir legen uns ja mit den Höchsten im Staate an."

© SZ vom 06.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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