Über diese Reise war seit Tagen geraunt worden - aus Sicherheitsgründen waren die Details jedoch bis zuletzt geheim gehalten worden. Jetzt aber sind die drei Staatschefs in Kiew angekommen: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und der französische Präsident Emmanuel Macron. Vor Ort wollen sie auch den rumänischen Präsidenten Klaus Johannis treffen, der ebenfalls nach Kiew gereist ist.
Dass diese Reise genau jetzt stattfindet, dürfte kein Zufall sein: An diesem Freitag will die EU-Kommission ihre Empfehlung aussprechen, ob die Ukraine offiziell den Status eines EU-Beitrittskandidaten verliehen bekommen soll - vor einem EU-Gipfel in der kommenden Woche, bei dem die 27 Staats- und Regierungschefs diese Empfehlung dann gleich diskutieren können. Mit der gemeinsamen Reise setzen die drei Staatschefs vor diesem Termin ein Zeichen der Einigkeit - trotzdem hat jeder auch seine ganz eigenen Motive.
Politisch gesehen liegt hinter Olaf Scholz die mühsamste Anreise. Mit der Ankunft von immer mehr europäischen Politikern in Kiew war über die Monate ein Fragezeichen immer größer geworden: Wo bleibt Scholz? Zum Zögern des Kanzler kam ein Eklat. Mitte April hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit den Staatsoberhäuptern Polens und der drei baltischen Länder in die Ukraine reisen wollen, war dort aber nicht erwünscht. Als Hintergrund wurde zum einen Steinmeiers russlandfreundlicher Kurs in der Vergangenheit vermutet.
Zum anderen wartete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij erkennbar auf einen anderen Gast aus Berlin: Scholz selbst. Der Kanzler aber reagierte empört auf die Ausladung. Erst nach einem klärenden Telefonat Steinmeiers und Selenskijs durfte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach Kiew reisen.
Scholz zögerte den Besuch hinaus
Damit war der Bann zwar gebrochen, aber Scholz zögerte den Besuch in der Ukraine weiter hinaus. Er wolle "sich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen". Bei einem Besuch müsse es um "ganz konkrete Dinge" gehen. Kritik aus der Opposition, speziell auch von CDU-Chef und Kiew-Besucher Friedrich Merz, ließ er abprallen. Allerdings wuchsen damit auch die Erwartungen an die Reise, von der klar war, dass sie nicht ewig aufzuschieben sein würde.
Scholz dürfte es in Kiew nun, da er endlich eingetroffen ist, darum gehen, Zweifel an seiner Solidarität mit der überfallenen Ukraine auszuräumen, ohne von seiner bisherigen Linie abzuweichen: Unterstützung der Ukraine mit Geld und Waffen, keinerlei Kriegsbeteiligung und, wie Scholz immer wieder betont, "enge" Abstimmung mit den Verbündeten. Die Reise im Trio passt deshalb besonders gut ins Konzept des Kanzlers. Sie soll zum einen demonstrieren, dass Deutschland im Einklang mit den Partnern handelt, und zum anderen, dass die Ukraine sich auf die Einigkeit der Europäer verlassen kann.
Scholz dürfte hier vor allem auch eine Frage im Sinn haben, bei der es an Einigkeit in Wahrheit bisher fehlt - die nach dem EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Auf der langen Zugfahrt könnten zumindest Scholz, Macron und Draghi letzte Differenzen ausgeräumt haben. Schwer vorstellbar ist, dass die Drei abreisen, ohne Hoffnung auf grünes Licht hinterlassen zu haben. Weniger klar ist, inwiefern Scholz neue Zusagen für die Lieferung schwerer Waffen mitbringt. "Wir werden die Waffen, die wir auf den Weg gebracht haben, alle liefern", hatte er zu Wochenbeginn gesagt und sich gegen Kritik verwahrt. Wenn es zu Verzögerungen komme, dann aus guten Gründen wie der noch laufenden Ausbildung ukrainischer Soldaten etwa an der Panzerhaubitze 2000.
Wider die deutsch-französische Achse
Für Italiens Premier Mario Draghi ist es schon einmal ein Erfolg, bei dieser Reise dabei zu sein, was wohl vor allem an seinem persönlichen Prestige auf internationalem Parkett liegt. "Es ist wichtig, dass alle drei fahren", schreibt die Zeitung La Stampa. Italien breche damit die traditionelle deutsch-französische Achse. Und das sei auch richtig, denn kein Land habe sich stärker engagiert für eine möglichst schnelle und unkomplizierte Aufnahme der Ukraine in der EU als eben Italien - früh und entschlossen.
Draghis Kabinett hat überhaupt eine sehr pro-ukrainische Linie, und das seit Beginn des Krieges, obschon drei Parteien der breiten Regierungskoalition voller Putiniani ist, wie die Italiener Putin-Versteher nennen: die Cinque Stelle von Giuseppe Conte, die rechte Lega von Matteo Salvini und Forza Italia von Silvio Berlusconi, dem alten Freund von Wladimir Putin.
Trotz ständiger Nuancierungen aus diesen Parteien hält Draghi die Linie: Italien hat die Sanktionen gegen russische Oligarchen mit vielen Beschlagnahmungen von Villen und Yachten durchgesetzt, so radikal wie kein anderes Land Europas; auch bei den Waffenlieferungen an die Ukraine zögerte Draghi nicht, obschon ihn einige Regierungspartner bremsen wollten. Die Minister von den Fünf Sternen, der Lega und Forza Italia tragen am Ende alle Entscheidungen geschlossen mit.
Beim Gas aus Russland hält es Rom still mit Berlin: Italiens Haushalte und Wirtschaft sind ähnlich stark davon abhängig wie Deutschlands, und so war man insgeheim froh, dass es bisher auf diesem Gebiet keinen totalen Bruch mit Moskau gab und lange Unterbrechung bei den Lieferungen ausblieben. Draghi bemühte sich zuletzt auch aktiv um eine Auflösung der Blockade am Schwarzen Meer, damit der ukrainische Weizen wieder in Länder im Nahen Osten und Afrika ausgeführt werden kann. Er rief dafür Putin und Selenskij an, in dieser Reihenfolge, zunächst ohne greifbares Ergebnis. In Rom findet man aber, Draghi habe mit seinem aktiven und markanten Auftritt seit Kriegsbeginn das geopolitische Gewicht Italiens gemehrt.
Für Emmanuel Macron begann die Reise in die Ukraine symbolisch schon zwei Tage früher: Am Dienstag war Frankreichs Präsident nach Rumänien aufgebrochen, am Mittwoch in die Republik Moldau. Macron besuchte zunächst die 500 französischen Soldaten die im Rahmen einer Nato-Mission in Rumänien stationiert sind. Er sendete damit zwei Signale: Erstens erinnerte er auf außenpolitischer Ebene daran, dass Frankreich schnell und entschieden dabei half, die Ostflanke der Nato zu stärken, nachdem Russlands Angriffskrieg begonnen hatte. Zweitens nutzte Macron die Reise gen Osten für seinen Wahlkampf. Am Sonntag findet in Frankreich die zweite Runde der Parlamentswahl statt. In Paris auf dem Rollfeld vor der Präsidentenmaschine stehend, kurz vorm Abflug, forderte Macron die Wähler auf für sein Parteienbündnis zu stimmen. Angesichts des Krieges in der Ukraine, dürfe man nicht "Chaos in Frankreich dem weltweiten Chaos hinzufügen". Eine Vermischung von Staatsbesuch und Wahlkampagne, die von der Opposition heftig kritisiert wurde.
Auch wenn Macron in Frankreich selbst als der aktuell pro-europäischste Kandidat gilt - ganz so eindeutig ist sein Image auf internationaler Bühne seit Beginn des Krieges nicht mehr. Macron schien, in gaullistischer Tradition, allzu sehr auf Russland fokussiert. In Osteuropa hat sich der Begriff des "Macronierens" für die endlosen Telefonate durchgesetzt, die Macron mit Russlands Präsident Wladimir Putin führt, ohne diplomatische Fortschritte vorweisen zu können. Zudem sorgte Macron für Irritationen, als er sagte, man dürfe "Putin nicht demütigen". Und auch als er vor dem EU-Parlament für die Ukraine den Rahmen einer "europäischen politischen Gemeinschaft" vorschlug, löste das zunächst Unmut aus.
Denn es klang so, wie man Macron auch mit den Westbalkanstaaten erlebt hatte: Keine Neuaufnahmen in die EU, bis sich diese nicht selbst grundlegend reformiert hat. Nur betont Macron, dass die "europäische politische Gemeinschaft" kein Trostpreis sein soll - sondern eine Möglichkeit der EU-Bindung noch vor dem Beitritt.
Anders als in Deutschland gab es in Frankreich keine Debatte darüber, ob und welche Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen. Über Kriegsfragen entscheidet in Frankreich der Präsident, nicht das Parlament. Zwar kommuniziert Frankreich nicht genau, welche seiner Waffen in der Ukraine im Einsatz sind, bekannt ist jedoch, dass allein 18 Artilleriesysteme des Typs Caesar geliefert wurden. Als Frankreichs Außenministerin Anfang Juni als erstes französisches Regierungsmitglied in die Ukraine fuhr, übergab sie zudem Rettungswagen und Feuerwehrfahrzeuge. Noch dringender hatten die Ukrainer jedoch auf etwas anderes gewartet: den Besuch Macrons. Knapp vier Monate nach Beginn des Krieges ist es nun soweit.