Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat sich am Samstag erstmals zu den Vorstößen ukrainischer Truppen in die russische Region Kursk geäußert. Der Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj habe ihn über „unsere Maßnahmen, den Krieg auf das Territorium des Aggressors zu verschieben“, informiert, sagt Selenskij. „Die Ukraine beweist, dass sie wirklich weiß, wie Gerechtigkeit wieder hergestellt wird, und dass sie genau die Art von Druck ausüben kann, die nötig ist – Druck auf den Aggressor.“ Selenskijs Berater Mychajlo Podoljak hatte vergangene Woche bereits gesagt, es ginge auch darum, Kiews Position bei möglichen Friedensverhandlungen zu verbessern.
So vage wie diese Aussagen sind nach wie vor die Informationen über die Lage in der russischen Grenzregion. Die ukrainische Seite hat, abgesehen von dem Statement Selenskijs, bislang gar keine Informationen veröffentlicht. Schon das ist aber ein Hinweis, wie ernst die ukrainische Führung den Angriff wohl nimmt. Vor der – letztlich gescheiterten – Gegenoffensive im vergangenen Jahr herrschte ebenfalls absolute Funkstille.
Sicher ist, dass es der russischen Armee bislang nicht gelungen ist, den ukrainischen Vorstoß zu stoppen oder zurückzudrängen. So berichten viele der oft gut informierten und nicht immer streng kremltreuen Militärblogger von anhaltenden Gefechten am Wochenende. Laut russischen Medienberichten sollen im Rahmen einer Evakuierungsaktion 76 000 Menschen aus dem umkämpften Gebiet in Sicherheit gebracht worden sein. Und das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Video, das zeigen soll, wie Artilleriesysteme und weitere militärische Ausrüstung in die Region verlegt wird.
Der Kreml selbst hat die Maßnahmen in den Grenzregionen als „Antiterroreinsatz“ deklariert. Laut dem US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) ein Hinweis, dass die russische Führung versucht, den Angriff herunterzuspielen, um die russische Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen. Nach Angaben des ISW, das sich auf verschiedene, nicht verifizierte russische und ukrainische Quellen beruft, verlegt das russische Verteidigungsministerium derzeit Truppen sowohl aus anderen Teilen Russlands als auch von der Front in der Ukraine und auch Wehrdienstleistende in die Region Kursk. Besonders der Einsatz von Wehrdienstleistenden in Kampfeinsätzen und für den Grenzschutz gilt als innenpolitisch riskant. Laut ISW gibt es bereits erste Beschwerden von Angehörigen und russischen Oppositionellen.
Wie die Lage einzuschätzen ist, darüber haben Experten unterschiedliche Meinungen
Die Lage ist sehr unübersichtlich. Es gibt Berichte, dass die ukrainischen Angreifer bereits begonnen hätten, Verteidigungslinien in Russland zu errichten. Bis zu 30 Kilometer sollen sie auf russisches Territorium vorgedrungen sein. Unklar ist, ob die Kleinstadt Sudscha nun unter ukrainischer Kontrolle ist oder nicht. Über Verluste auf beiden Seiten ist bislang nichts Verlässliches bekannt. Am Wochenende kursierte ein angeblich verifiziertes Video, das mehr als ein Dutzend zerstörte Lkws der russischen Armee und viele tote Soldaten zeigt.
Ein Reporter der Financial Times sprach in der Grenzregion mit ukrainischen Soldaten, die sich sehr zuversichtlich äußerten. Im Sicherheitspolitik-Podcast „War on the Rocks“ wagt der Militärexperte Michael Kofman eine erste Einschätzung der Lage: Mindestens könnte die ukrainische Armee in Russland einen Brückenkopf errichten, um russische Truppen in der Region zu binden. Wahrscheinlich würde die ukrainische Führung ihre Ziele aber anpassen, je nachdem, wie der Vorstoß weiter verläuft. Etwas kritischer sieht der Experte Gustav Gressel den Angriff im Gespräch mit dem Spiegel: Die ukrainische Armee würde auf Dauer Schwierigkeiten haben, die eroberten Gebiete zu halten. „Eine Verlängerung der Frontlinie nützt in erster Linie Russland“, sagt er. „Es hat mehr Waffen, Munition und Personal, das es an einer längeren Front einsetzen kann.“
Vieles klingt plausibel, wenig ist derzeit bestätigt. In jedem Fall muss die russische Führung auf den ukrainischen Vorstoß reagieren. Ein Abzug russischer Truppen von der Front im Donbass wäre bereits ein Erfolg für die Ukraine. Denn dort stehen die Verteidiger nach wie vor stark unter Druck. Eine Reihe wichtiger Städte wird von den russischen Angreifern bedroht, darunter Tschassiw Jar und Pokrowsk. Bei einem Raketenangriff auf einen Supermarkt in der Stadt Kostjantyniwka sind nach ukrainischen Angaben am Freitag 14 Menschen getötet und 44 verletzt worden.
In der Nacht auf Sonntag sind laut der ukrainischen Luftwaffe vier ballistische Raketen und 53 Drohnen abgefangen worden. Der Angriff soll auch wieder Kiew gegolten haben. Ein Vater und sein Sohn sind nach ukrainischen Medienberichten bei einem Drohneneinschlag getötet worden.
Andrij Jermak, der Leiter des ukrainischen Präsidentenbüros, äußerte sich nach den erneuten russischen Luftangriffen. Man müsse Russland die Fähigkeit nehmen, Zivilisten zu töten. Laut einem neuen Bericht der Vereinten Nationen war der Juli mit 219 Toten und 1018 Verletzten der tödlichste Monat für Zivilisten in der Ukraine seit fast zwei Jahren. „Es ist notwendig, seine militärische Infrastruktur zu zerstören, weil der Feind andere Argumente nicht akzeptiert“, sagte Jermak.
Es ist gut möglich, dass der ukrainische Angriff auf die Region Kursk ein Teil dieser Maßnahmen ist. Fast täglich werden ukrainische Orte über die Grenze hinweg mit Artillerie beschossen, viele der Luftangriffe auf Kiew und andere Städte werden von diesem Teil Russlands aus gestartet. Es scheint, als hätte die ukrainische Führung keinen Ausweg mehr gesehen, als den Krieg nach Russland zu tragen – trotz aller Risiken, die damit einhergehen.