Lage in der Ukraine:Ukraine erwartet massiven Angriff im Osten

Lage in der Ukraine: Die ukrainische Hafenstadt Mariupol ist immer noch von den Russen belagert - große Teile liegen in Trümmern.

Die ukrainische Hafenstadt Mariupol ist immer noch von den Russen belagert - große Teile liegen in Trümmern.

(Foto: Alexei Alexandrov/AP)

Während die Kämpfe unvermindert weitergehen, fordert der ukrainische Präsident Selenskij härtere Sanktionen und einen europäischen Boykott russischer Energieexporte.

Von Nicolas Freund, München

Es heißt ja immer, Geschichte wiederhole sich. In Michail Bulgakows Roman "Die weiße Garde" herrscht im Kiew des Jahres 1918 ebenfalls Krieg. Der Erste Weltkrieg ist gerade vorbei, schon zeichnet sich ein neuer Konflikt zwischen der bolschewistischen Roten Armee und der zarentreuen Weißen Garde ab. Die Geschwister der Familie Turbin geraten zwischen die Fronten und über dem Ofen in ihrem Haus steht neben allerlei Kritzeleien geschrieben: "Wenn man dir sagt, die Alliierten werden schon helfen - dann glaube es nicht." Gemeint waren auch damals schon Großbritannien, Frankreich, Japan, die USA und Deutschland.

Gerade hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij wieder zwei seiner Videoauftritt vor solchen alliierten Parlamenten, in Australien und den Niederlanden. Er forderte neue, härtere Sanktionen gegen Russland, einen europäischen Boykott russischer Energieexporte, Hilfe bei einem möglichen Beitritt zur EU sowie Waffen und Aufbauhilfen. Zumindest auf Waffenlieferungen und den Aufbau kann er wahrscheinlich zählen, aber die Ukraine versucht nach wie vor, ihre Verbündeten zu mehr Einsatz in dem Krieg zu bewegen. So traf sich am Donnerstag auch Wladimir Klitschko in Berlin mit Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Was genau bei dem Treffen vereinbart wurde, ist noch nicht bekannt. Die Ukraine ist in jedem Fall auf Hilfe anderer Länder angewiesen, um sich weiter gegen den Angriff Russlands verteidigen zu können: Olexij Arestowitsch, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij teilte am Donnerstag mit, fast die ganze Rüstungsindustrie des Landes sei inzwischen zerstört.

Auch gingen die Kämpfe in der Ukraine unvermindert weiter, obwohl das russische Verteidigungsministerium nach einer Verhandlungsrunde in der Türkei am Dienstag mitgeteilt hatte, die militärischen Aktivitäten um Kiew und die nördlich gelegene Stadt Tschernihiw herum reduzieren zu wollen. Dies bleibt aber eine Behauptung. Das britische Verteidigungsministerium teilte mit, Tschernihiw stehe weiter unter Beschuss und die Truppen um Kiew würden ihre Stellungen weiter halten. Teile der Truppen hätten sich zwar über die Grenze nach Belarus zurückgezogen, die ukrainische Armee geht aber davon aus, dass es sich dabei nur um Truppenrotationen handle und die Einheiten in anderen Teilen des Landes eingesetzt werden sollen. Für die folgenden Tage würden weiterhin heftige Kämpfe erwartet.

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg teilte mit, die russischen Truppen sollten nur neu ausgestattet und neuformiert werden. Wie angekündigt, wolle sich Russland auf den Osten der Ukraine konzentrieren, um das Gebiet des Donbass zu erobern. "Zugleich hält Russland den Druck auf Kiew und andere Städte hoch. Wir können also zusätzliche Offensiven mit noch mehr Leid erwarten", so Stoltenberg. Auch Selenskij sagte am Donnerstag, man bereite sich auf einen massiven russischen Angriff im Osten der Ukraine vor. Ein großer Teil der ukrainischen Truppen wird derzeit in diesem Teil des Landes eingesetzt, um russischen Vorstöße aus verschiedenen Richtungen aufzuhalten. Wenn es der russischen Armee gelingen sollte, diese Einheiten einzukesseln oder von Nachschub abzuschneiden, wäre das ein sehr schwerer Schlag gegen die ukrainischen Streitkräfte. Zuletzt ist in der östlichen Region Dnipro auch wieder ein Tanklager von russischen Raketen getroffen worden. Die russische Armee versucht, gezielt auch die Infrastruktur der ukrainischen Armee auszuschalten.

Am Freitag wollen russische und ukrainische Unterhändler miteinander sprechen

Trotz der anhaltenden Kämpfe sollen aber die diplomatischen Bemühungen weitergehen. So werden die Gespräche der russischen und ukrainischen Unterhändler am Freitag fortgesetzt, zunächst online. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu setze sich aber weiter für ein Treffen der ukrainischen und russischen Außenminister ein. Der italienische Premierminister Mario Draghi teilte nach einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit, dieser sehe die Bedingungen für einen Waffenstillstand noch nicht erfüllt und halte ein Treffen mit Selenskij für verfrüht.

Putins Außenminister Sergej Lawrow hatte sich unterdessen mit seinem chinesischen Kollegen Wang Yi getroffen. China hatte zuletzt trotz der internationalen Sanktionen zu Russland gehalten, wenn auch den Krieg nicht direkt unterstützt. In dem Treffen ging es offiziell um Afghanistan, Details der Gespräche sind nicht bekannt. Lawrow reiste anschließend weiter nach Indien. Das Land gilt als wichtiger Abnehmer für russisches Öl und andere Rohstoffe.

Es ist doch ein interessantes Detail, dass die Familie Turbin in Bulgakows "Die weiße Garde", ihre Zweifel an den Alliierten ausgerechnet an einem Ofen festhält.

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