Krieg in der Ukraine:Was heißt hier humanitär?

Krieg in der Ukraine: Nur raus: Ukrainer verlassen die Stadt Irpin bei Kiew.

Nur raus: Ukrainer verlassen die Stadt Irpin bei Kiew.

(Foto: Felipe Dana/AP)

Es ist irreführend, von humanitären Korridoren und humanitären Krisen zu sprechen. Zur wahren Bedeutung eines viel strapazierten Wortes.

Von Johan Schloemann

Wenn die russische Armee im Angriffskrieg gegen die Ukraine "humanitäre Korridore" anbietet, hat dies den Klang vergifteter Wohltätigkeit. Was der Versorgung und Evakuierung von Zivilisten dienen soll, ist zum einen gefährlich, weil diese sich offenkundig nicht darauf verlassen können, dass die Feuerpausen halten. Zum anderen kann die Vertreibung der Menschen über eine temporäre Schutzzone, selbst wo sie einigermaßen friedlich gelingen sollte, der Startschuss für weitere Zerstörungen der Städte werden. So hat Russland es schon bei der gnadenlosen Belagerung von Ost-Ghouta in Syrien und in anderen Konflikten gehalten. Es ist also besser, von notdürftigen Fluchtkorridoren zu sprechen.

Was aber heißt dann überhaupt "humanitär" im Krieg? Man bezeichnet damit die Aktivitäten der Hilfsorganisationen und alles, was abseits von Kampfhandlungen Leben rettet und menschliches Leid vermindert. Also etwa die Verpflegung und den Schutz von verwundeten Soldaten, Gefangenen und Zivilbevölkerung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen eigentlich international vereinbart wurden.

Die Wörter humanitarian und humanitaire kamen im 19. Jahrhundert im Englischen und Französischen auf, zum Teil noch mit der Bedeutung "was die ganze Menschheit angeht", aber auch im Sinne des Philanthropischen, des aktiven Einsatzes für eine möglichst organisierte Hilfsbereitschaft. Das dazugehörige Substantiv "Humanität" changiert auch schon in seinem lateinischen Ursprung zwischen Menschheit und Menschlichkeit.

Mit der Zeit verband man den Begriff ausschließlich mit der Nothilfe in Kriegen, Natur- und Hungerkatastrophen, und so wurde er in den vergangenen Jahrzehnten auch im Deutschen übernommen. So kam es auch zu der ungenauen Übertragung des Wortes auf die Notlagen selbst, man spricht von einer "humanitären Katastrophe", obwohl das Humanitäre ja gerade Abhilfe schaffen soll.

"Spezialoperation" statt Krieg

"Eine umfassende und allgemein anerkannte juristische Definition einer humanitären Krise liegt nicht vor", liest man im "Handbuch Krisenforschung". Das heißt, es gibt internationale Gepflogenheiten und viele unentbehrliche Hilfseinsätze, aber keinen klaren Konsens, wo sie anfangen und enden sollen. Erst recht, wenn Kriege nicht mehr erklärt, sondern zu "Spezialoperationen" werden und die Vereinten Nationen nicht (ausreichend) präsent sein können - dann hängt die humanitäre Hilfe noch mehr von der Willkür der Konfliktparteien ab. Es gibt ein Humanitäres Völkerrecht, aber unzählige Hindernisse, es wirksam durchzusetzen.

Zum verwirrenden Gebrauch des Wortes "humanitär" hat auch beigetragen, dass seit den Neunzigerjahren von "humanitären Interventionen" die Rede war. Gemeint waren Militäreinsätze zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen in Bosnien, Kosovo, Osttimor, Ruanda oder Somalia, mal mit, mal ohne Mandat der UN. Kritiker monierten, man könne Bombardierungen nicht als humanitär bezeichnen, auch wenn sie vielleicht schlimmeres Leid verhinderten. Solche Einsätze stehen jetzt gegen Putin nicht zur Debatte, aber viele haben stattdessen ihre Definition von "humanitär" gefunden: helfen, wo es geht.

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