Ukrainische Gegenoffensive:"Die Stunde ist gekommen"

Ukrainische Gegenoffensive: Ein ukrainischer Soldat sitzt in einem Schützengraben bei Bachmut. Die Ukraine soll einige Einheiten bewusst nicht an der Front einsetzen, um sie für die Frühjahrsoffensive verfügbar zu halten.

Ein ukrainischer Soldat sitzt in einem Schützengraben bei Bachmut. Die Ukraine soll einige Einheiten bewusst nicht an der Front einsetzen, um sie für die Frühjahrsoffensive verfügbar zu halten.

(Foto: Libkos/AP)

Seit Wochen wird darüber spekuliert, wann die ukrainische Frühjahrsoffensive startet und wie sie aussehen könnte. Ein viel beachtetes Video gibt Hinweise.

Von Florian Hassel, Odessa

Es ist ein Video von einer Minute und vier Sekunden, mit dem Walerij Saluschnyj, oberkommandierender General der Ukraine, seinen Landsleuten - und der Welt - zu Bildern entschlossen dreinblickender Soldaten und vorrückender Panzer eine Botschaft verkündet: "Die Stunde ist gekommen, um zurückzuholen, was uns gehört."

Das aufwendig produzierte Propagandavideo mit dem Titel "Gebet für die Befreiung der Ukraine" wurde am Samstagmorgen nicht nur in sozialen Medienkanälen des Oberkommandierenden veröffentlicht, es war Hauptthema der ukrainischen Fernsehnachrichten. Soldatensprechchöre wie "Heil unserer entscheidenden Offensive" sind nicht der einzige Hinweis darauf, dass die lang erwartete Frühjahrsoffensive der ukrainischen Armee nun tatsächlich bevorstehen könnte.

Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, sagte der BBC am Samstag, die Offensive könne "morgen, übermorgen oder in einer Woche beginnen". Sie sei eine historische Chance, die sich die Ukrainer nicht entgehen lassen könnten. Der BBC zufolge wurde das Interview von einem Anruf von Präsident Selenskij unterbrochen, der Danilow zu einem Treffen befahl, um Details der Offensive zu besprechen. Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow hatte in den vergangenen Wochen verkündet, die Ukraine habe nun alles Nötige für eine Offensive zur Verfügung.

Vorbereitungen sind seit Wochen im Gange: Die Ukrainer haben auf der besetzten Krim, in den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine und teilweise auch in Russland selbst systematisch russische Kommandopunkte, Kasernen, Vorratslager oder Eisenbahnknotenpunkte angegriffen und teilweise zerstört. Das ist auch mithilfe erst vor Kurzem von England gelieferter Storm-Shadow-Marschflugkörper gelungen, die eine Reichweite von 250 Kilometern haben und die Möglichkeiten des von Saluschnyj befohlenen Militärs erweitert haben.

Ansonsten ist bekannt, dass die Ukraine in den letzten Monaten für die Offensive neun Brigaden - jede bis zu 4500 Soldaten zählend - mit westlicher Militärtechnik neu ausgerüstet und trainiert hat. Diese Einheiten wurden bewusst nicht etwa im Abwehrkampf bei Bachmut und anderen Orten eingesetzt, was Saluschnyj Mitte Dezember 2022 ausdrücklich bedauerte. "Mögen die Soldaten in den Schützengräben mir vergeben", sagte der Oberkommandierende damals dem englischen Economist.

Keine Gegenoffensive ohne Verluste

Wann genau und wo nun die neuen Brigaden zum Einsatz kommen, wissen ebenfalls nur Saluschnyj und einige wenige andere, darunter natürlich der nominelle Oberbefehlshaber, Präsident Selenskij. Spekuliert wird, dass die Ukrainer etwa die noch von Russland besetzten Teile der Regionen Cherson und Saporischschja zurückerobern wollen. Diese Gebiete ermöglichen die Kontrolle über Teile der Schwarzmeerküste und des Asowschen Meeres und kontrollieren den Zugang zur Krim - aus Moskauer Sicht quasi das Kronjuwel der besetzten Gebiete.

Freilich haben die Russen entlang der Front an vielen Stellen mehrere Verteidigungslinien aus Schützengräben, Artilleriestellungen, Panzersperren und Minenfeldern errichtet - jede Offensive dürfte für die Ukrainer hohe Verluste zur Folge haben. US-Militärplaner gingen zumindest noch im Februar davon aus, dass Kiew bei einer Offensive nur wenig der 17 Prozent seines von Moskau besetzten Territoriums befreien könne.

Russland fährt unterdessen mit seinem Drohnen- und Marschflugkörperkrieg gegen ukrainische Ziele fort. Allein auf Kiew wurden in der Nacht zum Sonntag gut 40 bombenbestückte Drohnen abgefeuert, die laut Kiews Bürgermeister und der Kiewer Militärverwaltung allesamt von der Flugabwehr abgeschossen wurden. Es war bereits der vierzehnte Angriff auf Kiew im Mai.

Ein Dutzend russische Drohnen zielte auf andere Städte. Explosionen wurden etwa aus der Stadt Schytomyr westlich von Kiew gemeldet. Cherson wurde drei Mal angegriffen, das militärische Oberkommando "Süd" der Ukraine meldete sieben mit Marschflugkörpern ausgerüstete russische Kriegsschiffe im Schwarzen und Asowschen Meer und stufte die Gefahr weiterer Angriffe als hoch ein. In der Stadt Dnipro meldete Militärgouverneur Serhij Lyssak, nach einem russischen Raketenangriff auf ein Krankenhaus am 27. Mai seien bisher vier Tote geborgen worden.

Bei einem russischen Drohnenangriff in der Nacht zu Montag wurde nach ukrainischen Angaben der Hafen von Odessa teilweise beschädigt. Auch am Montagmorgen gab es, nach zuvor bereits erfolgten nächtlichen russischen Angriffen, in der ukrainischen Hauptstadt Kiew erneut Luftalarm.

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