Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:"Das Wertvollste der Ukraine sind ihre Menschen"

Je länger der Krieg dauert, desto mehr Geflüchtete werden in Deutschland bleiben. Kurzfristig bringt das viele Probleme mit sich, langfristig viele Chancen. Doch für das Heimatland ist es eine Katastrophe.

Von Nina von Hardenberg

Im neuen Jahr will sie nach Hause zurückkehren, sagt Kateryna Nikashkina. Im Frühling. Oder spätestens zum Ende des Schuljahres. Gleich nach Kriegsausbruch ist die Ukrainerin mit ihren zwei Kindern in die Nähe von München geflohen. Eine deutsch-russische Familie nahm sie herzlich auf. Sie lernten schnell Deutsch. Trotzdem wollen sie zurück, zu Vater und Großeltern, zu ihrem alten Leben. Zurück in ihr Land, das sie braucht, wie Nikashkina glaubt.

Vielleicht muss ihr Land aber noch warten. Weil der Kriegsverlauf eine Rückkehr nicht zulässt. Oder wegen des Jobs ihres Mannes. Der arbeitet als Erster Offizier auf Handelsschiffen. Sollte er wieder zur See fahren können, will sie nicht allein mit den Kindern im Kriegsgebiet sein.

Gehen oder bleiben? Die Frage stellen sich viele Ukrainer. Als die ersten Bomben fielen, hofften sie, sich nur kurzfristig in Sicherheit bringen zu müssen. Bei einer Umfrage des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung unter 11 000 ukrainischen Geflüchteten gaben nun aber bereits 26 Prozent an, in Deutschland bleiben zu wollen. Etwa ein Drittel will bis Kriegsende ausharren und dann zurückkehren. 27 Prozent waren noch unsicher, wie es für sie weitergehen würde.

Klar ist: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen werden in Deutschland Wurzeln schlagen. Aus dem Provisorium könnte ein Dauerzustand werden. Deutschland dürfte davon - bei allen aktuellen Problemen - langfristig profitieren. Für die Ukraine aber ist der Braindrain eine Katastrophe.

Fast drei von vier Geflüchteten aus der Ukraine haben einen Hochschulabschluss

Mehr als eine Million Ukrainer sind seit Kriegsbeginn nach Deutschland geflohen. Verglichen mit anderen Fluchtbewegungen finden sie sich leicht hier ein. Dabei hilft, dass sie überwiegend privat untergekommen sind. Bei der Umfrage gaben das 74 Prozent an. Dazu kommt das hohe Bildungsniveau der Menschen, die die Ukraine verlassen haben: 73 Prozent der Befragten zwischen 18 und 70 Jahren verfügen laut Umfrage über Hochschulabschlüsse. Was schlecht für die Ukraine ist, ist gut für Deutschland: 18 Prozent der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter haben bereits einen Job gefunden.

Das ist viel. Immerhin konnte die Mehrheit der Ankommenden kein Deutsch. Die meisten Erwachsenen waren Frauen, viele kamen mit minderjährigen Kindern. Mehr als die Hälfte der Befragten belegte oder belegt Deutschkurse. Das hohe Bildungsniveau und die Bereitschaft, "mit anzupacken und zu arbeiten", lobte auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser. "Erfreuliche Befunde" seien das, sagte die SPD-Politikerin, "auch mit Blick auf den drängenden Arbeits- und Fachkräftemangel".

Kurzfristig allerdings ächzen viele staatliche Stellen unter dem Zustrom. 621 000 ukrainische Staatsangehörige sind nach vorläufigen Zahlen Mitte November in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erfasst, darunter 414 000 Personen im erwerbsfähigen Alter und 207 000 Kinder. Die Arbeitslosenzahlen stiegen dadurch sprunghaft. Ohne Fluchteffekt hätte sie nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im November 2022 nicht bei rund 2,43, sondern bei 2,25 Millionen gelegen. Die Jobcenter haben Tausende neue Kunden, denen sie bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse, bei der Vermittlung in Jobs und Sprachkurse helfen müssen.

Auch wenn viele Ukrainer sich gut selbst weiterhelfen, die schiere Zahl der Ankommenden bringt Städte und Kommunen in Not. Es knirscht überall dort, wo es schon vorher knapp war. In den Schulen etwa, in denen nun 200 000 Schüler mehr lernen und die Lehrernot vergrößern. In den überheizten Wohnungsmärkten der Großstädte. Geflüchtete, die seit Monaten zu Gast wohnten, suchen dort nun verzweifelt nach einer bezahlbaren eigenen Bleibe. Fast aussichtslos ist das in Städten wie Berlin. Zumal die Flüchtlingsunterkünfte wegen der ebenfalls steigenden Zahlen von Asylbewerbern aus Syrien, Afghanistan, der Türkei oder dem Irak bereits voll belegt sind. In einigen Kommunen mussten wieder Turnhallen freigeräumt werden.

Das birgt politischen Sprengstoff, wie die viel kritisierte Weihnachtsbotschaft des Bautzener Landrates Udo Witschas zeigt. In dem auf Facebook veröffentlichten Video spricht der Landrat von Menschen, "die unsere Kultur nicht kennen". "Es ist nicht unsere Absicht, den Sport, ob nun den Schul- oder Freizeitsport, jetzt für diese Asylpolitik bluten zu lassen", sagt er.

Bei Politikern quer durch die Parteien löste das wütende Reaktionen aus: Sachsens grüne Justizministerin Katja Meier etwa warf Witschas vor, Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde mit Füßen zu treten. Auch die Bundes-CDU distanzierte sich von dem Landrat. In der Sache aber sind sich viele Lokalpolitiker einig: Turnhallen wollen sie möglichst nicht wieder mit Flüchtlingen belegen.

Menschen aus der Ukraine herausholen? Manche Helfer denken mittlerweile um

Manche Hilfsorganisationen denken angesichts des überlasteten Sozialsystems bereits um. "Gerade für alte und kranke Menschen ist es womöglich besser, wenn sie in der Ukraine bleiben können", sagt Janine von Wolfersdorff. Die Berlinerin, die gemeinsam mit dem Malteser Hilfsdienst in den ersten Monaten des Krieges zu Hunderten vor allem kranke Kinder, Schwangere und auch alte Menschen in Bussen aus Kiew herausholte, kämpft nun dafür, die Hilfsstrukturen dort wiederaufzubauen. Gemeinsam mit Bürgermeister Vitali Klitschko will sie ein Altenheim reparieren und erweitern lassen, sodass es auch Menschen aus umkämpften Teilen des Landes aufnehmen kann.

Auch die Bundesregierung setze alles daran, die Ukraine vor Ort zu unterstützen, "dass sie zerstörte Infrastruktur schnell wiederherstellen und durch den Winter kommen kann", sagt Ministerin Faeser. Hunderte Transporte brachten Generatoren, Räumfahrzeuge, Krankenwagen und Medikamente ins Land.

Außerdem habe man Geld für Binnenvertriebene bereitgestellt, damit diese sich mit dem Nötigsten versorgen können, also etwa Kleidung und Brennmaterial, heißt es aus dem Entwicklungshilfeministerium. Über die Internationale Organisation für Migration soll zudem Wohnraum für mindestens 7000 Binnenvertriebene in der Ukraine geschaffen werden. Hilfsorganisationen gehen manche dieser Projekte allerdings zu langsam voran.

Den Menschen im Land das Bleiben zu ermöglichen, auch jetzt im Winter, und gerade die Jungen und Gebildeten zurückzuholen: Für die Ukraine sind das Fragen des Überlebens. "Das wertvollste der Ukraine sind ihre Menschen", sagte der Bürgermeister Klitschko, zum Startschuss eines Hilfsprojekts in Kiew.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5721496
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/pamu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.