Geflüchtete aus der Ukraine:Im deutschen Alltag angekommen

Geflüchtete aus der Ukraine: Bisher läuft die Integration erstaunlich geräuscharm. Aber an manchen Stellen knirscht es auch gewaltig: an den Schulen zum Beispiel, wo plötzlich fast 150 000 Kinder mehr unterrichtet werden müssen.

Bisher läuft die Integration erstaunlich geräuscharm. Aber an manchen Stellen knirscht es auch gewaltig: an den Schulen zum Beispiel, wo plötzlich fast 150 000 Kinder mehr unterrichtet werden müssen.

(Foto: Robert Michael/dpa)

Mehr als 900 000 Flüchtlinge aus der Ukraine wurden bisher in Deutschland registriert. Nicht alle sind noch da, doch viele richten sich auf einen längeren Aufenthalt ein. Was bedeutet das?

Von Nina von Hardenberg

Viele nach Deutschland geflüchtete Ukrainer wollen schnell Deutsch lernen. 149 000 von ihnen wurde ein Integrationskurs genehmigt, etwa 57 000 Geflüchtete haben laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schon einen Kurs begonnen. Die Menschen sind gerade erst dem Krieg entkommen, viele hoffen auf baldige Rückkehr. Es sei deshalb "alles andere als selbstverständlich, dass eine solch große Zahl aus eigenem Antrieb so schnell die deutsche Sprache lernen möchte", sagt ein Sprecher des Bundesamtes. Andererseits sind die kostenlosen Kurse ein Privileg, das längst nicht allen Schutzsuchenden gewährt wird. Fünf Monate nach Kriegsbeginn zeigt sich vielmehr: Den Ukrainern wurde der Start in vielerlei Hinsicht leichter gemacht als anderen Schutzsuchenden. Das ist ein interessanter Feldversuch in Sachen Integrationspolitik.

Die Zahl der im Ausländerzentralregister erfassten Geflüchteten nähert sich der Million: 900 479 Menschen aus der Ukraine haben sich seit Kriegsbeginn am 24. Februar in Deutschland registrieren lassen. Wie viele tatsächlich im Land sind, weiß niemand. Ein Teil könnte ohne Abmeldung weitergereist oder zurückgekehrt sein. Andere sind noch gar nicht bei den Behörden aufgetaucht. Klar aber ist: Hunderttausende Ukrainer sind im deutschen Alltag angekommen. Und viele werden erst einmal bleiben. In einer Umfrage des UNHCR sagten zwei Drittel der ins Ausland Geflohenen, sie wollen vorerst nicht in ihre Heimat zurückkehren.

Stattdessen finden sich viele erstaunlich geräuschlos ein. 121 000 beantragten Kindergeld. 265 000 potenziell Erwerbstätige meldeten sich bis Juli in den Jobcentern. Allein zwischen Februar und April fanden 12 000 Ukrainer einen Job. Sie kommen unter - wohl auch, weil sie es, anders als andere Geflüchtete, sofort dürfen. Eine EU-Richtlinie erlaubt ihnen von Tag eins an, hier zu wohnen und zu arbeiten, ohne dass sie ein Asylverfahren durchlaufen müssen.

Heißt das, dass Deutschland diese Fluchtbewegung mühelos bewältigen wird? Keineswegs. Es knirscht in den Schulen, die mal eben knapp 150 000 Schüler zusätzlich in den Unterricht setzen müssen. Ebenso in Pflegeheimen und Kliniken. "Diesmal schaffen es auch die Verletzbarsten zu uns, Demenzkranke, bettlägerige Patienten. Also jene, die sonst immer zurückgelassen werden mussten, weil es keine sicheren Fluchtwege gab", erklärt Katja Kipping, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Tatsächlich sind unter den Ankommenden neben 37 Prozent Kindern auch mehr als sieben Prozent Menschen im Rentenalter.

Länder wie das klamme Berlin ächzen unter den zusätzlichen Kosten. Zwar trägt der Bund den Hauptteil der Lebensunterhaltskosten. Berlin aber betreibt in Tegel Deutschlands größtes Drehkreuz für die Verteilung von Geflüchteten. Eine Beteiligung des Bundes ist zugesagt. Doch die Verhandlungen laufen noch. "Der Bund macht sich bisher einen schlanken Fuß", so Kipping.

Fast unlösbar erscheint in Berlin auch die Situation auf dem Wohnungsmarkt. Zwar schickt das Land inzwischen einen Großteil der Ankommenden in andere Bundesländer. Doch viele zunächst privat Untergekommene suchen jetzt vergeblich nach einer eigenen Bleibe. Viele werden wohl in Gemeinschaftsunterkünfte ziehen müssen, aber auch die sind schon voll, weil die Asylzahlen insgesamt wieder steigen. "Wir müssen da mit offenen Karten spielen. Rein rechnerisch wird es nicht reichen", sagt Kipping.

Auch anderswo könnte sich die Situation zuspitzen, vor allem wenn die anfänglich enorme Hilfsbereitschaft erlahmt. In München etwa: Es kämen mittlerweile nur noch wenige Wohnungsangebote an, und auch ehrenamtliche Helfer fänden sich nicht mehr so leicht, sagt die Stadt. Die Münchner Freiwilligen haben ihre Zimmervermittlung vorerst eingestellt.

Andere sind optimistischer: Der erste Hilfsrausch sei vorbei, aber es meldeten sich nach wie vor viele, die auch für mehrere Wochen ihre Zimmer freiräumten, heißt es bei der Organisation Unterkunft Ukraine, die bislang 40 000 Geflüchteten ein kostenloses Bett anbieten konnte. Allerdings kämpfe man zunehmend mit der Bürokratie. So dürfen Geflüchtete den Wohnort, in dem sie Sozialhilfe beziehen, nicht mehr verlassen.

Insgesamt aber ist die Abwesenheit von Zwang und Bürokratie ein bemerkenswerter Unterschied zur bisherigen Migrationspolitik, wo Schutzsuchende Monate bis Jahre in Sammelunterkünften wohnen und Integrationskurse nur bei guter Bleibeperspektive bezahlt bekamen. Viele sehen in dem neuen Kurs ein Erfolgskonzept. Jeder Geflüchtete solle arbeiten dürfen und Integrationsangebote erhalten, fordert etwa die Caritas. Die Bundesregierung will jetzt zumindest die Situation der Langzeitgeduldeten verbessern. Auch Sprachkurse für alle Asylbewerber stehen im Koalitionsprogramm.

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