Schaffen wir das? Die Frage wird bislang noch nicht so laut und mit kritischem Unterton gestellt wie nach 2015. Fakt ist aber, dass Deutschland zwar noch nicht so viele Geflüchtete aufnimmt wie im Fluchtsommer vor bald sieben Jahren, aber doch bereits enorm viele. Allein in Baden-Württemberg sind inzwischen mehr als 84 000 Geflüchtete aus der Ukraine untergekommen. Das ist nicht mehr weit weg von den gut 100 000 Menschen, die das Bundesland im Jahr 2015 als Asylsuchende erreichten. Bundesweit baten 2015 erst etwa 440 000 und 2016 noch mal 720 000 Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak erstmals um Asyl.
Wie viele Geflüchtete aus der Ukraine sich momentan in Deutschland aufhalten, lässt sich nicht genau sagen. Mit derzeit offiziell 383 916 registrierten Ukraine-Flüchtlingen sind jedenfalls schon so viele Menschen ankommen wie in manchem Jahr während der Balkankriege Anfang der Neunzigerjahre, der für Deutschland zweitgrößten Fluchtwelle der Nachkriegszeit, die 1992 ihren Höhepunkt erreichte. Damals stellten knapp 440 000 Vertriebene einen Antrag auf Asyl.
Für die Ukrainer ist die Situation anders als für die damals Geflüchteten. Sie dürfen visumsfrei einreisen und werden ohne Asylverfahren direkt als Flüchtlinge anerkannt. Darin liegt die große Chance - für sie und auch für Deutschland. Statt jahrelang in Asylverfahren festzuhängen und in Gemeinschaftsunterkünfte gezwungen zu sein, können diese Menschen von Tag eins an wohnen, wo sie wollen, ihre Kinder einschulen, sich Arbeit suchen - und ankommen.
Alles gut, also? Ein Kraftakt bleibt der gleichzeitige Zustrom von so vielen Menschen dennoch. Ein Überblick über aktuelle Probleme, und wie sie gelöst werden könnten.
Am liebsten in die Städte
Sie mussten Hals über Kopf aufbrechen, aber viele der Ukrainer, die kurz nach Kriegsbeginn aus ihrer Heimat flohen, wussten sehr genau, wohin. 82 Prozent der hierzulande Angekommenen wollten tatsächlich speziell nach Deutschland. Mehr als jede zweite (die Mehrheit sind Frauen) sogar in den Ort, in dem sie sich zum Zeitpunkt der Befragung Ende März aufhielt, wie eine Umfrage im Auftrag des Bundesinnenministeriums gut vier Wochen nach Kriegsbeginn ergab. Das waren überwiegend große Städte. Zwei Drittel gaben an, dort Freunde oder Familie zu haben. Anderen war die Stadt von Freunden empfohlen worden oder sie hofften, dort Arbeit zu finden.
Deutschlands Städte wurden so besonders stark bestürmt, in Berlin kamen zeitweilig 10 000 Menschen am Tag an. 42 000 Geflüchtete aus der Ukraine erhalten dort inzwischen Sozialleistungen. In München kamen bislang 12 000 unter. Aber auch Bremen, wo es eine große ukrainische und russische Community gibt, erlebte mit 7200 Geflüchteten einen für den Stadtstaat überproportionalen Zuzug.
Seit Wochen bemüht sich die Politik nun, zumindest all jene, die nicht privat unterkommen, gleichmäßiger in die verschiedenen Bundesländer zu lenken. An der Hauptstadt etwa sollen die Flüchtlingsströme möglichst vorbeifahren. Die Deutsche Bahn ließ Sonderzüge von Frankfurt an der Oder oder Przemyśl an der polnisch-ukrainischen Grenze direkt zum Verteilzentrum Hannover rollen.
Allerdings kann und will niemand die Ankommenden hindern, danach zu ihrem Wunschort weiterzufahren. Sie dürfen sich in Deutschland und der EU frei bewegen. "Die meisten Ukrainer kennen nur die großen Städte, deshalb wollen sie dorthin", erklärt Holger Liljeberg vom Forschungsinstitut Info, das die Umfrage durchgeführt hat. Wer die Fluchtrouten beeinflussen wolle, müsse frühzeitig auf sozialen Netzwerken für andere Gegenden werben. Derzeit baut die Bundesregierung mit Germany4Ukraine ein Infoportal auf, das solche Informationen bündeln könnte.
Wo wohnen sie?
Das Besondere in dieser Krise ist die Gastfreundschaft: Knapp ein Viertel der Geflüchteten war Ende März bei Freunden untergekommen, 22 Prozent in einer sonstigen Privatwohnung, und 19 Prozent wohnten bei Verwandten. In Sammelunterkunft, Lagern und Turnhallen wohnten demnach nur sieben Prozent. Doch schon die brachten viele Bundesländer an ihre Grenzen. Die Erstaufnahmeeinrichtungen vieler Länder waren schnell fast komplett belegt, berichtet der Mediendienst für Integration. Mit Hochdruck werden deshalb jetzt überall zusätzliche Schlafplätze geschaffen.
Viele Flüchtlinge seien "immer noch sehr notdürftig untergebracht - in voll belegten Unterkünften und in Notunterkünften", berichtet Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen. Außerdem gebe es auch Schwierigkeiten bei der privaten Unterbringung im eigenen Haushalt.
Immerhin ist der Druck zuletzt etwas gesunken, weil weniger Geflüchtete ankamen und einige zurückkehrten. Ihre Zahl sei von täglich 15 000 Menschen Mitte März auf nun nur noch rund 2000 gesunken, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Sendern RTL und ntv. In Berlin stehen mehrere Notunterkünfte leer, wie etwa eine Einrichtung der Caritas im Prenzlauer Berg. "Es kommen weniger Menschen, aber dafür sind sie deutlich älter, kränker und auch sichtbar traumatisierter", gibt die Direktorin des Berliner Caritasverbandes Ulrike Kostka zu bedenken.
Im Land der Bürokratie
Der deutsche Staat will wissen, wer ins Land kommt. Deshalb erwartet jeden Flüchtling in Deutschland eine Identitätsprüfung, biometrisches Foto und Fingerabdrücke inklusive - und die kann dauern: In der Regel werden Flüchtlinge aus der Ukraine über das sogenannte Pik-System erfasst, das auch zur Registrierung von Asylsuchenden verwendet wird. 30 bis 60 Minuten sollte jeder einplanen, berichten Flüchtlingshelfer, vorausgesetzt die Technik spielt mit. Mal seien die Server überlastet, mal die Wartungsfenster ungünstig, mal zu wenige Geräte vorhanden.
Die Verfahren unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland, allgemein gilt aber: Entscheidend für die Registrierung ist, wo Geflüchtete als Erstes unterkommen: in einer der zentralen Ankunftsstellen oder privat bei einer Familie. In den Ankunftszentren werden die Geflüchteten in der Regel systematisch erfasst. Wer hingegen privat wohnt, muss sich erst einmal nicht registrieren. Dem Identitätscheck entgehen die Geflüchteten aber nicht. Dieser wird spätestens dann fällig, wenn sie einen dauerhaften Aufenthalt beantragen wollen.
Die Registrierung ist für die Ankommenden nur einer von mehreren Behörden-Spaziergängen. Zum Beispiel Berlin: Wer das Ankunftszentrum erreicht, hat zunächst mit dem Landesamt für Flüchtlinge (LAF) zu tun, das neben der Erfassung der persönlichen Daten auch für die Verteilung im Land zuständig ist. Wer Sozialleistungen benötigt, muss sich beim Sozialamt melden. Wer einen Aufenthaltstitel beantragen will, muss zum Landesamt für Einwanderung (LEA). Dort bekommen die Kriegsflüchtlinge auch ihre Arbeitserlaubnis. Laut einer Befragung des Bundesinnenministeriums waren 92 Prozent der hier angekommenen Ukrainerinnen in ihrer Heimat berufstätig oder befanden sich in der Ausbildung.
Heimatlos
Vielleicht am schwersten ist derzeit die Situation jener Vertriebenen, die aus der Ukraine fliehen mussten, aber keinen ukrainischen Pass haben. Geschäftsleute aus Vietnam, die seit Jahren in der Ukraine lebten, sind darunter genauso wie ein Taxifahrer aus Usbekistan und viele Studierende aus Nord- und Westafrika. All diese Menschen erhalten in Europa nicht automatisch Schutz nach der Massenzustrom-Richtline, die für die Ukrainer gilt; sondern nur, wenn klar ist, dass sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren können. Das Problem: Studenten aus Marokko oder Tunesien droht in ihrem Herkunftsland zumeist keine Gefahr. Sie haben jedoch oft all ihr Geld, manchmal auch das von Verwandten, für den Studienplatz ausgegeben. Einige stehen kurz vor dem Abschluss. "Diese Menschen sind genauso vertrieben worden", sagt Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat, der ein zweijähriges Aufenthaltsrecht für diese Menschen fordert.
Willkommen in der Schule
Was gerade in den Schulen los ist, lässt sich vielleicht am besten am Beispiel des kleinsten Bundeslandes ermessen: Etwa 7000 Kinder ist ein Schuljahrgang in Bremen stark. Fast halb so viele ukrainische Schüler dürften bereits angekommen sein, schätzt der Sprecher der Sozialsenatorin. Sie verteilen sich auf alle Altersgruppen. Dennoch: Eine Menge Kinder sind das, die da plötzlich zusätzlich beschult werden müssen. Bundesweit sind es nach Angaben der Kultusministerkonferenz schon mehr als 65 000 zusätzliche Schüler - und das obwohl viele Schulen schon vorher unter Lehrermangel ächzten.
Vielerorts wurden deshalb in Windeseile Willkommensklassen aufgemacht, wie es sie auch 2015 und 2016 gab, als Tausende Flüchtlinge vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak ankamen. Auch damals waren unter ihnen etwa 30 Prozent Kinder und Jugendliche. In den Willkommensklassen lernten sie getrennt von den deutschen Schülern zunächst vor allem Deutsch und nahmen nur stundenweise am normalen Unterricht teil.
Jetzt ist der Anteil der Kinder unter den Flüchtlingen mit 39 Prozent noch höher. Ihre Situation aber ist etwas anders: Viele wollen möglichst bald zurückkehren. Sollen sie da überhaupt Deutsch lernen? Oder wäre es besser, sie online dem ukrainischen Unterricht folgen zu lassen? Es gibt geflüchtete Schüler, die derzeit in Deutschland online ihr ukrainisches Abitur schreiben. Beschulung nach ukrainischen Lehrplänen forderte auch die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka bei einem Auftritt vor der Kultusministerkonferenz.
Die meisten Bundesländer setzten trotzdem auch auf Integration. In Bayern etwa, das mit 12 000 bislang insgesamt die meisten Schüler in Schulen aufgenommen hat, sind bereits mehr als 600 sogenannte Willkommensgruppen entstanden, in denen etwa 1700 Willkommenskräfte unterrichten. Lehrer können das sein, aber auch Studierende, Pensionäre oder schlicht Menschen mit ukrainischen Sprachkenntnissen. Ukrainische Lehrer sind ebenfalls eingebunden. Die Kinder lernen dort Deutsch.
Wo es keine Willkommensklassen gibt, werden die Kinder von Tag eins an in die Klassen mit reingesetzt. Es geht auch darum, ihnen ein bisschen Struktur zu geben, ein bisschen Alltag inmitten der Fremde.