Es ist die größte - und vor allem schnellste - Fluchtbewegung, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. In nur acht Tagen seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sind 1,2 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Mehr als die Hälfte von ihnen, in ihrer großen Mehrheit Frauen und Kinder, gelangte nach Polen. Aber auch in den anderen Nachbarländern, in Ungarn, der Slowakei, in Rumänien und in Moldau sind schon viele Zehntausende Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen. Sogar auf das Gebiet der russischen Angreifer haben sich 53 000 Ukrainer geflüchtet.
Und überall wächst die Zahl der Flüchtenden. Zwar beobachten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen an den Grenzen, dass die erste Fluchtwelle ihren Höhepunkt überschritten haben könnte. "Die Schlangen sind nicht mehr so lang wie in den Tagen zuvor", meldete Chris Melzer, Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, vom polnisch-ukrainischen Grenzübergang Medyka. Aber das könnte sich jederzeit ändern, wenn die Kämpfe sich weiterhin ausweiten und noch brutaler werden.
Flüchtlinge aus der Ukraine:Zimmer frei
Eine halbe Million Flüchtlinge in einer Woche, nicht nur die Polen scheinen damit gerade kein Problem zu haben, auch in Brüssel bewegt sich einiges. Und die Menschen in Europa? Überschlagen sich vor Solidarität. Eine Geschichte, zu schön, um wahr zu sein.
Wie viele Menschen dieser Krieg noch vertreiben wird und wohin sie gehen werden - diese Fragen beschäftigen vor allem diejenigen, die sich darum kümmern müssen, dass die Geflohenen ein Aus- und Unterkommen finden. Denn schon jetzt, nach nur einer Woche, bewegen sich die Zahlen in einer Größenordnung, die der des großen Fluchtwinters vor sieben Jahren nahekommt. Zum Vergleich: 2015 kamen etwa 1,3 Millionen vor allem syrische Flüchtlinge nach Europa, im Jahr darauf noch mal eine Million.
Die schlimmsten Szenarien scheinen Wirklichkeit zu werden
Wie viele also werden es? Franck Düvell, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, mit einer Ukrainerin verheiratet und kurz vor Kriegsbeginn noch in der Ukraine, hat bereits vor Putins Angriff einige Szenarien durchgespielt - von denen nun die schlimmsten Wirklichkeit zu werden scheinen. Schon in den Kämpfen von 2014, als von Russland unterstützte Separatisten mit Gewalt Teile des Donbass in der Ukraine unter ihre Kontrolle brachten, war die Hälfte der dort lebenden Menschen geflohen oder vertrieben worden - die meisten in andere Teile der Ukraine, etwa ein Viertel nach Russland.
Breiten sich nun die Kämpfe auf die gesamte östliche Hälfte des Landes einschließlich der Hauptstadt Kiew und der Hafenstadt Odessa aus, sind davon 24 Millionen Menschen betroffen - es könnten, so rechnet Düvell, bis zu zwölf Millionen in die Flucht getrieben werden. Das UNHCR kalkuliert derzeit mit bis zu vier Millionen möglichen Flüchtlingen, geht aber davon aus, dass solche Prognosen derzeit auf sehr wackeliger Grundlage stehen.
Und wohin gehen sie? 90 Prozent "fahren gleich weiter zu Verwandten und Bekannten", sagt Andrea Najvirtová, die Flüchtlingshilfe an der slowakisch-ukrainischen Grenze organisiert, bei einer Informationsveranstaltung des Mediendiensts Migration. Ähnliches berichten Helfer aus anderen Ländern. Noch gibt es daher trotz der extrem hohen Flüchtlingszahlen genug Platz in den Aufnahmeeinrichtungen Polens und anderer Nachbarländer.
Mehr als eine Million ukrainische Bürger lebten nach offiziellen Zahlen schon vor dem Krieg in den Länder der Europäischen Union, 300 000 allein in Polen. In Tschechien, Italien und Spanien wohnen und arbeiten jeweils mehr als 100 000 Ukrainer, in Deutschland waren es Ende 2020 genau 145 515, zwei Drittel davon weiblich. In der Realität dürften aber in Polen um ein Vielfaches und in anderen europäischen Ländern zumindest deutlich mehr Menschen mit familiären Verbindungen in die Ukraine leben. Etwa viele, die in der EU arbeiten, ohne gemeldet zu sein, oder Migranten, die längst einen EU-Pass haben.
Insgesamt dürften nach Düvells Schätzung ungefähr eine Viertelmillion Ukrainer und Ukrainischstämmige in Deutschland wohnen. Wie viele von ihnen Flüchtlinge aus der Heimat aufnehmen, ist kaum kalkulierbar, ebenso wenig, wie viele der Fliehenden überhaupt nach Deutschland wollen. Bisher kamen nur einige Tausend hier an.
Hilfsorganisationen rechnen damit, dass mehr als zwei Drittel der Geflohenen zunächst in den unmittelbaren Nachbarstaaten wie Polen bleiben - auch in der Hoffnung, möglichst bald zurückkehren zu können. Noch stoßen sie auf eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft. Aber was wird, wenn der Krieg noch Monate, gar Jahre andauert, wenn noch viele Menschen mehr fliehen müssen? "Wir dürfen nicht davon ausgehen", warnt Düvell, "dass Polen die Last allein schultern kann."