EU-Beitritt der Ukraine:"Wir werden an eurer Seite sein"

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Die EU lobt die gute Zusammenarbeit mit der Ukraine. Dann folgt das Aber. (Foto: SERGEI SUPINSKY/AFP)

In Kiew lobt Kommissionschefin von der Leyen die Widerstandskraft der Ukraine und fordert Reformen. Sie lässt offen, ob das Land bald eine Empfehlung als EU-Beitrittskandidat erhält - die Bremser sitzen auch in Berlin.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Wolodimir Selenskij bekommt regelmäßig Besuch in Kiew, aber man merkt, dass er sich über diesen Gast besonders freut. Schon zum zweiten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist Ursula von der Leyen in die Ukraine gereist - und wird mit Lob überhäuft. "Ich möchte Ihnen nicht nur für Ihren Besuch danken, sondern vor allem für die Hilfe, die Sie unserem Land geben", sagt der Präsident. Er wisse, dass von der Leyen sich "jeden Tag" darum kümmere, die Ukraine zu unterstützen.

Selenskij weiß natürlich, dass die Chefin der EU-Kommission eine zentrale Rolle bei der Frage spielt, wie schnell die Ukraine an die Europäische Union heranrücken kann. Schließlich ist es ihre Behörde, die den 27 Mitgliedstaaten eine Stellungnahme über den ukrainischen Antrag vorlegen und darin ein Urteil über die Beitrittstauglichkeit treffen muss. Sein Volk habe "bereits einen riesigen Beitrag bei der Verteidigung der gemeinsamen Freiheit und der gemeinsamen Werte geleistet", sagt Selenskij, und erinnert an die Tausenden Soldaten, die im Krieg gegen Russland gestorben sind. Für ihn ist die Sache klar: "Eine positive Antwort der EU auf den ukrainischen Antrag zur EU-Mitgliedschaft kann eine positive Antwort auf die Frage sein, ob es überhaupt eine Zukunft des europäischen Projekts gibt."

Auch von der Leyen, die unter größtmöglicher Geheimhaltung per Nachtzug nach Kiew gekommen ist, weiß um die symbolische Bedeutung ihrer Reise, und dass jeder ihrer Sätze nach Hinweisen auf den Inhalt der bald anstehenden Empfehlung der Kommission abgeklopft wird. "Tag und Nacht" werde an der Stellungnahme gearbeitet, sagt sie, und dass diese Ende der kommenden Woche vorliegen wird - also eine knappe Woche vor dem EU-Gipfel.

Dort müssen sich die Staats- und Regierungschefs auf eine gemeinsame Haltung einigen - aber längst nicht alle EU-Mitglieder sehen Kiew so positiv wie von der Leyen. So hatte sie etwa Anfang Juni erklärt, es sei "unsere moralische Pflicht", es der Ukraine zu ermöglichen, der EU beizutreten. EU-Diplomaten kritisieren solche Aussagen: Die Deutsche wecke damit Erwartungen, die nicht erfüllbar seien und vertrete Positionen, welche die nationalen Regierungen nicht teilen würden. In Kiew versichert von der Leyen Selenskij darum nur etwas, das unstrittig ist: "Wir werden an eurer Seite sein."

Von der Leyen lobt Ukraines Verwaltung und fordert härteres Vorgehen gegen Korruption

Dass nach den Statements keine Fragen möglich sind, verdeutlicht die angespannte Lage. Von der Leyen möchte bei diesem "Arbeitsbesuch" nichts verraten, sondern Mut machen. Sie zeigt sich tief beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit der Ukrainer, die ihre Heimat verteidigen. Das Land sei eine "solide parlamentarische Präsidialdemokratie" mit robusten Institutionen, einem hohen Grad an Digitalisierung und Dezentralisierung, sagt von der Leyen. "Wir sehen jeden Tag, dass die Zusammenarbeit der Verwaltung mit der Kommission auf allen Ebenen funktioniert, und das trotz des Krieges", lobt sie.

Es folgt das Aber. Trotz erheblicher Fortschritte bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit müsse die Ukraine Reformen umsetzen, etwa bei der Bekämpfung von Korruption, fordert sie. Die Nichtregierungsorganisation Transparency International führt die Ukraine aktuell auf Platz 122 von 180, worauf EU-Länder wie Dänemark, Finnland oder die Niederlande gerne verweisen. Auch bei der Verwaltung seien noch Modernisierungsschritte nötig, um die Suche nach Investoren zu verbessern, mahnt die Kommissionspräsidentin. Ob diese Umschreibung ausreichen kann, die Ukraine uneingeschränkt als "Beitrittskandidaten" zu empfehlen, darüber dürfte in Brüssel viel spekuliert werden.

Unstrittig ist, dass die Ukraine seit März akribisch und professionell in der EU für ihren Beitrittswunsch geworben hat. Minister, Abgeordnete und andere Spitzenpolitiker teilten sich die Mitgliedstaaten untereinander auf. Es besuchten also immer die gleichen Personen bestimmte EU-Hauptstädte, um Kontakte aufzubauen und Überzeugungsarbeit zu leisten - oft weniger hör- und sichtbar als die Auftritte von Selenskij oder Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk.

Zuständig für europäische Integration und damit auch für die Beantwortung der Hunderte Seiten umfassenden Fragebögen ist Vizepremierministerin Olha Stefanischyna. Bevor sie am Samstagmorgen von der Leyen in Kiew begrüßt, führte sie noch am Donnerstag Gespräche in Brüssel und teilte danach mit der Süddeutschen Zeitung und einer Handvoll internationaler Medien ihre Einschätzung der Lage.

Als Bremser sieht die Ukraine bisher auch die Bundesregierung

Sie gehe davon aus, dass "70 bis 80 Prozent der Mitgliedstaaten" bereit seien, der Ukraine den Kandidaten-Status zu geben, darunter Italien und Österreich. Widerstand kommt aus anderen Ecken: "Portugal kam für uns sehr überraschend. Dort gibt es eine der größten ukrainischen Diasporas. Wir verstehen das nicht." Die Position der Bundesregierung kenne man nicht, weil niemand diese klar artikuliere, sagte Stefanischyna. Neben Deutschland, Frankreich und den Niederlanden seien noch "einige nordische Länder" zu überzeugen. Diese seien skeptisch und vermieden klare Aussagen, solange die Stellungnahme der Kommission noch nicht vorliegen. In einer ersten Beratung der EU-Botschafter warben am Mittwoch vor allem Polen, Irland, Litauen und Estland für Kiews Wunsch.

Stefanischyna betonte, dass ihr Land keine Vorbedingungen akzeptieren wolle: Die Ukraine brauche den Rechtsstatus des Beitrittskandidaten. Danach könne der weitere Weg, der viele Jahre dauern dürfte, festgelegt werden, ohne dass man Sonderregeln beanspruche. Dies beteuert auch Selenskij immer wieder. In einer Videoansprache, die am Sonntagmorgen veröffentlicht wird, spricht er von einem "diplomatischen Marathon", der bald zu Ende geht. Erneut zeigt er sich überzeugt, dass mit der Entscheidung über einen Kandidatenstatus für die Ukraine auch die Europäische Union gestärkt werden könne.

Vizepremierministerin Stefanischyna sorgt sich unterdessen über die Tendenz vieler EU-Politiker, die Beitrittsambitionen im Paket mit jenen Moldaus und Georgiens zu behandeln. Beide hatten im März ebenfalls ihre Anträge eingereicht. "Das ist meine größte Sorge, denn wenn wir in denselben Korb gesteckt werden, vergrößert dies die Unklarheit und gibt den Skeptikern Auftrieb." Die Vizepremierministerin argumentiert, dass beide Länder "politisch und institutionell weit hinter der Ukraine" zurückliegen würden.

In Brüssel ist von Vertretern der Mitgliedstaaten mitunter zu hören, die Ukraine sei "besessen" vom Status des Beitrittskandidaten. Allerdings gebe es für deren Eile mindestens drei gute Gründe, so berichtet ein hochrangiger EU-Beamter. Es sei "eine historische Chance" für die Ukraine, da die europäische Öffentlichkeit enorme Sympathie für das von Russland angegriffene Land habe und bisher keine andere Krise den Krieg als medial dominierendes Thema abgelöst habe.

Zweitens könnte eine klare, rechtlich fixierte EU-Perspektive Selenskij helfen, bei künftigen Verhandlungen mit Präsident Wladimir Putin möglicherweise Zugeständnisse zu machen und die eigenen Bürger davon zu überzeugen - man könnte sich der Unterstützung der EU-Länder noch sicherer sein, argumentiert der Insider. Er nennt als dritten Punkt die enormen Kosten für den Wiederaufbau, der Schätzungen zufolge 500 Milliarden Euro kosten könnte. Der Status des Beitrittskandidaten könnte Investoren überzeugen, dass das Land sich wirklich modernisieren wolle - und nicht den Zustand vom 23. Februar 2022 anstrebe, also direkt vor Kriegsbeginn. Und wenn man die Summen heranziehe, die Polen, Tschechien oder Ungarn in den letzten Jahrzehnten vor und nach deren EU-Mitgliedschaft erhalten hätten, erscheinen die Kosten für den Wiederaufbau nicht mehr ganz so unvorstellbar.

Treffen mit Soldaten und ein Spaziergang an historischem Ort

In dieser Frage will sich auch die EU-Kommission besonders engagieren, indem sie für gute Absprachen und Koordination der vielen internationalen Akteure sorgen will, betont von der Leyen in ihrem Auftritt an der Seite Selenskijs. Vor ihrer Abreise besucht sie noch ein Militärkrankenhaus, um mit verwundeten Soldaten zu sprechen. Zudem spaziert sie über den Maidan-Platz, wo 2014 wochenlang für eine demokratische Ukraine demonstriert wurde - und für eine EU-Perspektive. "Es bewegt mich, dass das Leben langsam in die Straßen von Kiew zurückkehrt", schreibt die Kommissionschefin auf Twitter.

Es sind auch diese Bilder, die von der Leyen in der Ukraine so populär machen, weil sie den Menschen Hoffnung geben. Womöglich hat dies nun auch Olaf Scholz erkannt. Laut Bild am Sonntag plant der Bundeskanzler, noch vor dem G-7-Gipfel Ende des Monats nach Kiew zu reisen - und zwar mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Premier Mario Draghi.

Auf ihrer Rückreise im Nachtzug nach Polen sagt von der Leyen zu Journalisten, beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni müsse eine einheitliche Position gefunden werden, "die die Tragweite dieser historischen Entscheidungen widerspiegelt". Ihr nächster Satz dürfte den Ukrainern Mut machen: "Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren, wenn wir zurückblicken, sagen können, dass wir das Richtige getan haben."

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