EU-Gipfeltreffen:Kiews langer Weg nach Europa

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Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, gestikuliert auf einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskij. (Foto: Roman Pilipey/Getty Images)

Beim Gipfeltreffen mit den EU-Spitzen muss der ukrainische Präsident Selenskij lernen, dass ihm sein Wunsch nach einem Beitritt so schnell nicht erfüllt wird - trotz aller Solidaritätsbekundungen.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Wie nennt man es, wenn zwischen Worten und Taten eine Lücke klafft? Heuchelei? Diplomatie? Pragmatismus? In jedem Fall lässt sich so der Umgang der Europäischen Union mit der Ukraine beschreiben: Die Rhetorik ist ehrgeiziger als die Realität. Das Gipfeltreffen der EU-Spitzen mit der ukrainischen Regierung am Freitag in Kiew hat diese Kluft offengelegt.

Der Ort und der Zeitpunkt des Gipfels waren höchst symbolträchtig: Das Treffen zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und dem ukrainischen Staatschef Wolodomir Selenskij war das erste dieser Art seit Beginn des russischen Angriffs vor knapp einem Jahr. Es war zudem das erste, das in einem Kriegsgebiet stattfand - am Morgen des Gipfeltags wurde in Kiew Luftalarm ausgelöst. Die Hauptbotschaft, die von dem Treffen ausgehen sollte, an die Ukrainer wie an das Regime in Moskau, lautete: Europa steht fest an der Seite der Überfallenen. Das Gipfeltreffen zeige, dass Russlands Krieg ein "strategischer Fehlschlag" sei, sagte von der Leyen.

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Sie stellten zwischenzeitlich den größten Teil der Kämpfer und wurden in blutige Gefechte geschickt. Der Satelliteninternetdienst Starlink von Elon Musk will nicht länger für Drohnen-Attacken genutzt werden.

Es mangelte auch nicht an Solidaritätsschwüren. "Die EU wird die Ukraine und das ukrainische Volk gegen den anhaltenden russischen Angriffskrieg unterstützen, solange es nötig ist", heißt es in der Abschlusserklärung des Gipfels. "Die EU und die Ukraine sind eine Familie", sagte Michel. Die Union habe eine "klare Entscheidung" getroffen, dass die Ukraine zu ihr gehöre, und werde sich nicht von Moskau einschüchtern lassen. "Euer Schicksal ist unser Schicksal", so Michel. Von der Leyen nannte das Land eine "wahre Inspiration" für Europa.

Außer mit Worten unterstützt die EU die Ukraine mit Geld. Um die 50 Milliarden Euro an humanitärer, wirtschaftlicher und militärischer Hilfe hätten die Union und ihre Mitgliedsländer insgesamt schon bereitgestellt, rechnete von der Leyen in Kiew vor. 18 Milliarden Euro hat die EU allein für dieses Jahr bewilligt, um den ukrainischen Staat vor dem Kollaps zu bewahren. Diplomaten erwarten, dass diese Summe erhöht werden muss.

Bei der Frage, welchen Platz die Ukraine längerfristig in der EU haben soll, gehen die Ansichten in der Union auseinander

Bei der Ausbildungsmission für die ukrainische Armee hat Brüssel bereits nachgelegt - statt der geplanten 15 000 sollen 30 000 Soldaten in EU-Ländern trainiert werden. Außerdem will die EU ihre Strafmaßnahmen gegen Russland weiter verschärfen. Neun Sanktionspakete gibt es bereits, spätestens zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, dem 24. Februar, soll das zehnte fertig sein. Von der Leyen besuchte in Kiew sogar ein Postamt, in dem die Ukrainer energiesparende LED-Glühbirnen abholen können. Die EU will dem Land 50 Millionen Stück schenken, um das kaputtbombardierte Stromnetz zu entlasten.

Bei der Frage, welchen Platz die Ukraine längerfristig in der EU haben soll, gehen die Ansichten in der Union allerdings auseinander. Im vergangenen Juni haben die 27 Mitgliedsländer der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Aber es haben noch keine formellen Beitrittsverhandlungen begonnen. Und die Liste der Brüsseler Forderungen ist lang. Sie reichen von Rechtsstaatsreformen bis zu Schritten im Kampf gegen Korruption.

Selenskij will die Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr eröffnen. Bis 2024 soll die Ukraine nach Vorstellung der Regierung in Kiew Vollmitglied der Union zu werden. Die Ukraine habe schon 72 Prozent aller Bedingungen erfüllt, die im Assoziierungsabkommen enthalten seien, sagte Selenskij.

Doch Kiews Forderungen gehen vielen EU-Mitgliedern deutlich zu weit - wobei die Bereitschaft, die Ukraine rasch aufzunehmen, in dem Maße sinkt, in dem man sich in der EU nach Westen bewegt. Die stärksten Fürsprecher Kiews sind die baltischen Staaten und Polen. Frankreich, Spanien und Portugal sind skeptischer, was einen baldigen Beitritt angeht. Auch Deutschland unterstützt den ambitionierten Zeitplan Kiews nicht.

In der Abschlusserklärung des Gipfels finden sich daher keine detaillierten Aussagen zum Ablauf des weiteren Beitrittsprozesses, geschweige denn ein Datum für die Vollmitgliedschaft. Von der Leyen und Michel redeten nach dem Treffen zwar von schneller Hilfe bei der Reparatur der zerstörten Infrastruktur der Ukraine - aber nicht von einem schnellen Beitritt. "Es gibt keine starren Fristen, sondern Ziele, die man erreichen muss", sagte von der Leyen. Sie sei aber "tief beeindruckt" davon, wie die Ukraine Reformen vorantreibe.

Das ist für Selenskij enttäuschend. Aber der ukrainische Präsident hat in zwölf Monaten Krieg auch gelernt, dass maximaler öffentlicher Druck die EU dazu bringen kann, sich zu bewegen. Manchmal sogar gegen ihren Willen und erstaunlich schnell.

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