Ukrainischen Truppen ist es möglicherweise gelungen, bei Cherson am östlichen Ufer des Dnjepr einen Brückenkopf zu errichten. Der britische Geheimdienst teilte am Samstag mit, dass seit dem 23. Juni ukrainische Streitkräfte wieder versuchten, den Strom zu überqueren. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms Anfang Juni hatte solche Operationen wegen des Hochwassers und der unklaren Lage schwierig, wenn nicht unmöglich gemacht. Durch die Wassermassen sollen aber auch die Befestigungen der russischen Armee am Ostufer mindestens teilweise weggespült worden sein; möglicherweise hat die russische Armee zudem auch Truppen aus dieser Gegend in die Region Saporischschja verlegt, wo ukrainische Truppen derzeit eine Gegenoffensive durchführen. Nachdem sich das Hochwasser nun zurückgezogen hat, versucht die ukrainische Armee wahrscheinlich, diese Lage am Dnjepr auszunutzen.
Schon vor dem Dammbruch waren in teilweise geolokalisierten Videos Landungsversuche und Gefechte am Ostufer zu sehen gewesen. Auch fanden in den letzten Monaten immer wieder Kämpfe um die Inseln im Flussdelta statt. Nach wie vor ist aber unklar, ob es der ukrainischen Armee wirklich gelungen ist, eine dauerhafte Präsenz am von Russland besetzten Ufer des Flusses aufzubauen.
Der britische Geheimdienst schreibt weiter, seit 27. Juni hätten die Gefechte am Ostufer an Intensität zugenommen. Auch die ukrainische Armee teilte am Sonntag mit, es fänden schwere Kämpfe statt, vor allem in der Gegend um die teilweise zerstörte Antoniwka-Brücke.

Krieg in der Ukraine:Die Brücke am Fluss
An einer Windung des Dnjepr zwischen Belarus und der Ukraine halten Soldaten Wache - und die Bewohner im nächsten Dorf fühlen sich beinahe sicher. Aber jeder weiß: Die Russen können jederzeit zurückkommen.
Die russische Armee hat offenbar Sorge vor einem ukrainischen Vorstoß über den Dnjepr
Wladimir Saldo, der von Russland eingesetzte Gouverneur des besetzten Teils der Region Cherson, behauptet dagegen auf Telegram, es seien ukrainische Truppen am Ostufer durch einen Überraschungsangriff zurückgeschlagen worden, und es gäbe keine ukrainischen "Brückenköpfe" auf dieser Seite des Flusses. Die Experten des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) halten diese Behauptungen für übertrieben. Womöglich wollten Teile der russischen Armee mit solchen Meldungen Kompetenz demonstrieren, nachdem es den Wagner-Söldnern Jewgenij Prigoschins vor einer Woche gelungen war, das Hauptquartier der russischen Armee in Rostow am Don einzunehmen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Laut ISW zeigten solche Meldungen aber auch, dass in der russischen Armeeführung wohl Sorge vor einem größeren Vorstoß ukrainischer Truppen im Süden über den Dnjepr herrsche.
Strategisch wäre ein solcher Angriff tatsächlich eine Katastrophe für die russische Armee: Sie müsste die Landbrücke zur Krim dann an zwei Fronten verteidigen. Ob den ukrainischen Streitkräften eine solche Operation tatsächlich gelingen kann, ist aber alles andere als sicher. An der Front im Süden und im Osten versuchen ukrainische Truppen derzeit Angriffe mit kleineren Verbänden aus wenigen Kampfpanzern und Minenräumfahrzeugen gefolgt von Schützenpanzern.

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Anders als mit gepanzerten Fahrzeugen sind Erfolge gegen die teils stark befestigten russischen Verteidigungslinien auch kaum möglich. Panzer und andere Fahrzeuge über den bis zu einem Kilometer breiten Dnjepr zu transportieren, ist aber eine sehr riskante Operation. Die russische Armee hat bei solchen Versuchen durch die ukrainische Artillerie bereits schwere Verluste erlitten. Das Risiko eines solchen Vorstoßes wäre für die ukrainische Armee deshalb sehr hoch.
Dazu kommt, dass laut dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba auch die Luftverteidigung der Gegenoffensive noch immer ein Problem sei. Viele der vom Westen gelieferten Abwehrsysteme werden gebraucht, um ukrainische Städte vor russischen Luftangriffen zu schützen. So wurde am Sonntagmorgen erneut in Kiew Luftalarm ausgelöst, mehrere Drohnen und Raketen sollen abgefangen worden sein. Durch herabstürzende Trümmer kam es laut Meldungen zu Schäden an Gebäuden. Auch die Stadt Cherson wurde erneut mit Artillerie beschossen, mindestens vier Menschen sollen verletzt worden sein.