Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:IAEA-Bericht sieht Sicherheit in Saporischschja schwer gefährdet

Die Atomenergiebehörde legt nach ihrem Besuch einen Bericht über die Lage im Atomkraftwerk vor. Sie fordert eine entmilitarisierte Zone - und ein sofortiges Ende des Beschusses. Doch der hört nicht auf.

Von Florian Hassel, Belgrad

Nach ihrer mehrtägigen Inspektion des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporischschja hat die Internationale Atomenergiebehörde IAEA einen mit Spannung erwarteten Bericht vorgelegt. Dieser bestätigt nicht nur erstmals unabhängig die massive Anwesenheit von russischem Militär im größten Kernkraftwerk Europas, sondern schlussfolgert, dass die Sicherheit in dem Atomkraftwerk umfassend gefährdet wird. Die IAEA sei nach wie vor "schwer besorgt". Der Generaldirektor der mit den Vereinten Nationen verbundenen Organisation, Rafael Grossi, sagte vor dem UN-Sicherheitsrat in New York: "Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren."

Denn alle sieben Grundregeln der IAEA für den sicheren Betrieb eines Atomkraftwerkes würden in Saporischschja verletzt: von der Unversehrtheit der Atomanlagen (Reaktoren oder Kühlbecken) über sichere Arbeitsbedingungen und uneingeschränkten Zugang des Personals zu allen Anlagen (daran werden sie teils vom russischen Militär gehindert) über sichere Lieferungen von Material, eine gesicherte Stromversorgung, funktionierende Radioaktivitätsmessanlagen bis hin zur gesicherten Kommunikation mit Aufsichtsbehörden.

Die zentrale Forderung der IAEA, deren Generaldirektor Rafael Grossi auch den UN-Sicherheitsrat informierte: ein sofortiger Stopp aller Bombardierungen des Kraftwerks und des Geländes drumherum sowie die Einrichtung einer "nuklearen Sichehrheitszone" - im Klartext: einer entmilitarisierten Zone - durch Russen und Ukrainer. UN-Generalsekretär António Guterres bekräftigte dies: "Russische und ukrainische Streitkräfte müssen sich verpflichten, keine militärischen Aktivitäten in Richtung des Werksgeländes oder vom Werksgelände aus durchzuführen."

Eine entscheidende Frage lässt der Bericht offen

Der IAEA-Bericht beantwortet freilich nicht die Frage, wer für welchen Beschuss verantwortlich ist. Ukrainer und Russen beschuldigen sich gegenseitig, für die Angriffe der vergangenen Wochen verantwortlich zu sein. Russische Positionen wurden zuletzt auf dem Kraftwerksgelände, in der fünf Kilometer östlich des Kraftwerks liegenden Stadt Enerhodar sowie mehrere Kilometer westlich des Atomkraftwerkes identifiziert. Das russische Militär beschießt von diesen Stellungen aus seit Juli ukrainische Städte und Militärposten jenseits des an dieser Stelle mindestens sieben Kilometer breiten Flusses Dnjepr, an dem das Atomkraftwerk liegt.

Auch während die IAEA-Fachleute letzte Hand an ihren Bericht legten, gingen die Artilleriegefechte weiter: Allein in der Nacht zu Montag sei die Gegend um die Stadt Nikopol gegenüber dem AKW Saporischschja von drei Salven russischer Grad-Raketen getroffen worden, so der ukrainische Militärgouverneur der Region. 31 Gebäude seien beschädigt worden, 2000 Menschen ohne Strom.

Anders als es Kiew offiziell darstellt, schießen die Ukrainer auch regelmäßig zurück, am 20. Juli auch auf eine russische Stellung auf dem Gelände des Atomkraftwerkes selbst. Am vergangenen Freitag brüstete sich der ukrainische Generalstab in einem Facebook-Post in Landessprache damit, man habe russische Artillerie und Munitionslager in der neben dem AKW liegenden Stadt Enerhodar mit "Präzisionsschlägen" vernichtet - aus der englischsprachigen Information für das ausländische Publikum löschte das Militär dieses Detail. Und am Dienstagmittag meldete Enerhodars legitimer Bürgermeister Dmyrto Orlow eine gewaltige Explosion in der Stadt, durch die sowohl die Strom- als auch die Wasserversorgung ausgefallen seien - wer dafür verantwortlich ist, blieb offen.

Seit Montag ist das Atomkraftwerk vom ukrainischen Stromnetz getrennt. Nur der letzte verbliebene von sechs Atomreaktoren liefert noch Strom für Kühlwasserkreisläufe und andere Sicherheitssysteme, die ein Schmelzen der Reaktorkerne oder andere Unfälle und eine mögliche Atomkatastrophe verhindern. Am Freitag war die letzte Hochspannungsleitung, die das Kraftwerk normalerweise mit dem ukrainischen Netz verbindet, ausgefallen.

Das Kraftwerk liegt an einem Frontabschnitt, der immer härter umkämpft ist

Das Wochenende über wurde das Kraftwerk über eine Reserveleitung zu einem nahegelegenen Heizkraftwerk versorgt. Auch diese sei nun "wegen weiteren russischen provokativen Bombardements beschädigt", sagte Präsident Wolodimir Selenskij in seiner abendlichen Videobotschaft am Montag. Sein Energieminister und die Atomenergiebehörde des Landes meldeten Ähnliches.

Doch die IAEA zeichnet ein anderes Bild: Ihr hätten die Ukrainer erklärt, die Leitung sei gar nicht beschädigt. Vielmehr hätten ukrainische Fachleute das AKW von ihr getrennt, um ein Feuer zu löschen. Sie solle wieder angeschlossen werden, sobald die Löscharbeiten abgeschlossen seien. Die ukrainischen Mitarbeiter des Atomkraftwerkes wollten zudem die am Freitag ausgefallene Hochspannungsleitung reparieren. Die IAEA bestätigte indes, dass das Gelände des Kernkraftwerkes "unter erneuten Beschuss" geraten sei.

An anderer Stelle der Front versuchen die russischen Streitkräfte, möglichst viel ukrainische Infrastruktur zu zerstören. Für die Ukrainer wiederum ist neben der Stabilisierung der Front im Donbass die Rückeroberung der strategisch wichtigen Hafenstadt Cherson am Schwarzen Meer vordringliches Ziel. Dem Washingtoner Institut für Kriegsstudien zufolge haben die Ukrainer bisher einige Dörfer erobert und greifen russische Munitionsdepots sowie Kommandoposten oder Brücken an.

Doch das Londoner Militärforschungsinstitut RUSI stellte am 2. September in einer Analyse fest, eine größere ukrainische Offensive zur Befreiung der gesamten Region von russischer Besatzung sei wegen der notwendigen zahlenmäßigen Überlegenheit wohl erst 2023 zu erwarten, weil "die ukrainischen Streitkräfte Zeit brauchen, um genügend manövrierfähige Einheiten aufzubauen". Freilich gebe dies auch den Russen mehr Zeit, um neue Einheiten zu mobilisieren und zu trainieren.

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