Es ist der bisher wohl schwerwiegendste Zwischenfall in den an Zwischenfällen nicht gerade armen Monaten rund um das Atomkraftwerk Saporischschja. Die Rede ist von Beschuss und von einem Feuer - aber was diesen Zwischenfall wirklich ausgelöst hat, ist auch einen Tag später nicht klar. Wie immer in den vergangenen Wochen schieben sich die Ukraine und Russland gegenseitig die Schuld zu. Nur eines berichteten beide Seiten am Donnerstag übereinstimmend: Europas größtes Atomkraftwerk ist zumindest zeitweise vom Netz gegangen.
Seit Anfang März ist die Anlage am Ufer des Dnjepr von russischen Soldaten besetzt, doch die ukrainischen Techniker hielten das Kraftwerk über Monate des Kriegs hinweg am Laufen. Zwar nur mit drei der sechs Reaktoren, seit ein paar Tagen nur noch mit zwei, aber es lief und versorgte Teile der Südukraine weiter mit Energie.
Normalerweise verbinden vier Stromleitungen das AKW mit dem ukrainischen Stromnetz. Drei sind nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien in den vergangenen Wochen, in denen es immer wieder Beschuss gab, schon kaputtgegangen. Am Donnerstag meldete die IAEA: Auch die letzte funktionsfähige Leitung wurde zerstört. Die beiden bis dahin noch laufenden Blöcke schalteten in den Notfallmodus. Die Reaktoren von Saporischschja lieferten keinen Strom mehr. Erst am Freitagabend meldete die Betreiberfirma Energoatom, dass es gelungen sei, beide Reaktoren wieder ans Netz zu bringen - ans ukrainische.
Der Bürgermeister der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Enerhodar hatte am Donnerstag auf seinem Telegram-Kanal von Stromausfällen infolge des Zwischenfalls am Kraftwerk berichtet. Gleiches schrieb auch Wladimir Rogow von der russischen Besatzungsverwaltung der Region Saporischschja. Er sagte, ukrainische "Provokationen" seien der Auslöser gewesen. Die Leitung wiederum sei durch einen Waldbrand zerstört worden.
Am Freitag dann widersprach Rogow im russischen Staatsfernsehen der Darstellung von Energoatom: Das Kraftwerk laufe zwar wieder - aber es versorge von nun an nicht mehr die von Kiew kontrollierten Gebiete der Ukraine, sondern diejenigen, die Russland seit dem 24. Februar "befreit" habe.
Am Donnerstag schien das kurzfristig viel größere Problem jedoch ein anderes zu sein: Auch die Reaktoren selbst konnten nach ukrainischen Angaben zunächst nicht mehr von außen mit Strom versorgt werden - den brauchen sie aber, um die Brennstäbe zu kühlen. Ohne Kühlung droht eine Kernschmelze. Den Angaben des Betreibers und der IAEA zufolge wurde das AKW zwischenzeitlich über eine Notstromleitung zu einem benachbarten Wärmekraftwerk versorgt. Für den Notfall verfügt das Kernkraftwerk auch über 20 Dieselgeneratoren, die bei einem vollständigen Ausfall der Stromversorgung von außen wenigstens für einige Tage die Kühlung sicherstellen würden.
Atomkraftwerk Saporischschja:Reaktoren in der Gefahrenzone
Ein aktives Atomkraftwerk in einem Kampfgebiet: Zum ersten Mal in der Geschichte ist dieses Schreckensszenario Realität. Wer am AKW Saporischschja auf wen schießt, darüber wird heftig gestritten. Könnten False-Flag-Operationen hinter den Angriffen stecken?
IAEA-Chef Rafael Mariano Grossi zeigte sich sehr besorgt angesichts dieses neuen Zwischenfalls. "Fast jeden Tag passiert etwas Neues", sagte er, "wir können es uns nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren." Er persönlich wolle in den nächsten Tagen eine Expertenmission zum Kraftwerk anführen. Bisher war eine solche Expedition gescheitert, weil die Lage in der Kampfzone als zu gefährlich galt - und weil Russland offenbar die Bedingung stellte, die internationalen Fachleute müssten über besetztes Gebiet anreisen, was die Ukraine wohl nicht akzeptieren wollte.
Die US-Regierung warnt Russland indes davor, das Atomkraftwerk dauerhaft vom ukrainischen Netz zu trennen. "Um es ganz klar zu sagen: das Atomkraftwerk und der Strom, den es produziert, gehören der Ukraine", sagte ein Sprecher des Außenministeriums. Noch am Mittwoch hatte Petro Kotin, Chef des Kraftwerkbetreibers Energoatom, dem britischen Guardian berichtet, die russischen Besatzer hätten Kraftwerksmitarbeitern einen Plan präsentiert, wie sie die Anlage zunächst vom ukrainischen Netz trennen würden, um es anschließend an ein russisches anzuschließen. Ausgangspunkt des Vorhabens: Alle Stromleitungen Richtung Ukraine müssten gekappt werden - wie es nur einen Tag später auch passiert ist.