Es gibt ein verächtliches Sprichwort über Generäle, das lautet so: Sie kämpfen immer den letzten Krieg. Soll heißen: Die Leute, die dafür Sorge tragen sollten, dass ihre Armeen modern ausgerüstet sind, um in den Kriegen der Zukunft zu bestehen, orientieren sich bei ihren Planungen oft an längst geschlagenen Schlachten.
Die Außen- und Verteidigungsminister der EU, die sich am Montag in Brüssel trafen, dürften sich allerdings gewünscht haben, dass ihre Generalstäbe ein bisschen mehr in die Vergangenheit geschaut hätten. Dann stünden die EU-Länder heute vielleicht nicht vor der unerfreulichen Situation, die Ukraine nicht in ausreichender Menge mit einem Rüstungsgut beliefen zu können, das eigentlich - zumindest bildlich gesprochen - ein militärischer Pfennigartikel ist: Artilleriegranaten mit dem Nato-Standardkaliber 155 Millimeter.
Für die Ukraine sehe es "sehr düster"aus
"Wir dachten alle, der nächste Krieg wird von Hackern im Cyberspace und mit Hightech-Waffen geführt", klagte vor dem Treffen ein ranghoher EU-Diplomat. "Stattdessen sehen wir jetzt in der Ukraine Abnutzungsschlachten wie einst im Ersten Weltkrieg, die mit Artillerie ausgetragen werden."
Bei dieser Art der Kriegführung, auf die offenbar in Europa niemand mehr vorbereitet war, kann die ukrainische Armee nicht mit der Feuerkraft der russischen Streitkräfte mithalten. Für jeden Schuss, den ukrainische Geschütze abgeben, feuern die Russen westlichen Angaben zufolge vier oder fünf ab. Das ist einer der Gründe, warum in Brüssel die militärische Lage für die Ukraine derzeit schlecht bewertet wird. "Es sieht sehr düster aus", sagt ein Diplomat.
Die EU will das Missverhältnis bei der Artilleriemunition daher möglichst schnell beenden. Die Ministerinnen und Minister einigten sich am Montag darauf, dass die Ukraine in den nächsten zwölf Monaten bis zu eine Million 155-Millimeter-Geschosse erhalten soll. Der Beschluss war auch als Signal an die Präsidenten Russlands und Chinas gedacht, Wladimir Putin und Xi Jinping, die sich zeitgleich in Moskau trafen und ihre Verbundenheit demonstrierten.
Bis zu eine Million Geschosse - das klingt nach viel. Tatsächlich aber sind 83 000 Granaten pro Monat nur ein Drittel der Menge, die die Ukraine braucht. Doch es ist alles andere als leicht, mehr Munition zu besorgen. Die Waffenlager der meisten westeuropäischen Staaten sind praktisch leer. Den Munitionsherstellern fehlt es an Rohstoffen und Produktionskapazitäten. Die in den vergangenen Jahrzehnten kleingesparte europäische Rüstungsindustrie kann daher längst nicht so schnell und so viele 155-Millimeter-Granaten fertigen, wie nötig wären, um den Bedarf der Ukraine zu decken und gleichzeitig die leeren Arsenale der EU-Länder wieder zu füllen.
Die Ministerinnen und Minister versuchten am Montag, dem Problem mit Geld beizukommen - genauer: mit zwei Milliarden Euro. Sie sollen aus einem Geldtopf kommen, der als "European Peace Facility" (EPF) bekannt ist. Dieser Sonderetat wird seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine dafür genutzt, jene EU-Länder zu entschädigen, die Waffen und anderes Hilfsmaterial an Kiew abgeben.
Nach dem Willen der EU-Länder soll jetzt eine Milliarde Euro aus dem EPF-Topf dazu verwendet werden, Spenden von 155-Millimeter-Granaten an die Ukraine aus den Beständen jener europäischen Länder zu finanzieren, die noch solche Geschosse haben. "Die Zeit drängt sehr", sagt ein Diplomat. Kurzfristig könne der Munitionsmangel der Ukraine nur behoben werden, wenn die EU-Mitglieder auch die letzten Reste aus ihren Beständen abgäben.
Eine zweite EPF-Milliarde wollen die EU-Länder dazu verwenden, um neue Munitionsbestellungen bei der Industrie in Auftrag zu geben. Die EU wäre allerdings nicht die EU, wenn sie sich dafür nicht eine Konstruktion ausgedacht hätte, die komplizierter ist, als es womöglich nötig wäre.
Die Munitionsbestellungen sollen auf zwei Wegen möglich sein: Zum einen will sich eine Gruppe von knapp 20 EU-Ländern zusammentun, die dann gemeinsam über eine europäische Behörde namens European Defence Agency (EDA) Artilleriegranaten ordert. Vorbild ist dabei der Ankauf von Covid-Impfstoff, der während der Pandemie zentral von der EU-Kommission organisiert wurde. Deutschland ist Teil dieser Gruppe.
Das wichtigste Ziel: Die Ukraine soll schnell Munition kriegen
Zugleich wollen einige EU-Staaten aber auch zusätzlich und separat Aufträge an Rüstungskonzerne vergeben - im Notfall auch an Unternehmen, die nicht in der Europäischen Union sitzen. In das Lager der Länder, die diesen nationalen Weg gehen wollen, gehört ebenfalls Deutschland. Die Bundesrepublik will die Rolle einer sogenannten Führungsnation übernehmen und zusammen mit anderen EU-Staaten Granaten für die Ukraine und die eigenen Waffenkammern kaufen. Die Niederlande und Dänemark haben Interesse gezeigt.
Es sei leichter, bei bereits bestehenden Munitionsbestellungen die Stückzahl zu erhöhen, als neue Verträge auszuhandeln, heißt es zur Begründung aus der Bundesregierung. In Berlin ist man offensichtlich skeptisch, dass eine kleine Behörde wie die EDA, die keine praktische Erfahrung mit Rüstungsgeschäften hat, die Aufgabe stemmen kann.
Mehrere Minister betonten in Brüssel, dass es im Moment vor allem auf Schnelligkeit ankomme. "Ziel muss sein, das hat absolute Priorität aus meiner Sicht, dass noch in diesem Jahr eine nennenswerte Zahl von entsprechender Munition in die Ukraine geliefert wird", sagte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius.
Langfristig will die EU auch die Kapazitäten der europäischen Rüstungsindustrie deutlich aufstocken. Wie das organisiert und vor allem finanziert werden soll, ist allerdings noch offen. Die Ministerinnen und Minister einigten sich zunächst nur darauf, eine Kommission einzusetzen. Absehbar ist aber, dass die European Peace Facility wieder aufgefüllt werden muss - wenn die zwei Milliarden Euro für die Artilleriegranaten ausgegeben sind, ist der EPF-Topf leer. Im Gespräch ist ein frischer Beitrag von 3,5 Milliarden Euro.