Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Angst vor der nächsten Offensive

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Von Florian Hassel, Kiew

Kampf- und Schützenpanzer, Flugabwehrgeschütze, Granat- und Raketenwerfer: Es war ein beachtliches Arsenal der prorussischen Rebellen, das Fachleute der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Nacht auf den 3. Juni in der Nähe von Donezk beobachteten. Als der Tag graute, begannen die Rebellen mit einem Angriff auf die von der ukrainischen Armee gehaltene Kleinstadt Marinka. Erst als Antwort feuerten die Ukrainer ihrerseits Stunden später auf die Rebellen, so beschreibt es die OSZE.

Nach dem Gefecht, einem der schwersten seit Monaten, sprach der ukrainische Generalstab von fünf toten Soldaten und etlichen Verletzten, die Rebellen meldeten mindestens 19 Tote. Ein Fall der verkehrstechnisch wichtigen Stadt wäre die größte Niederlage Kiews seit dem Verlust von Debalzewe im Februar. Ab Mittwochabend kehrte zunächst Ruhe in Marinka ein. An anderer Stelle wurde weiter gekämpft: etwa in der Hafenstadt Mariupol.

Anzeichen für eine mögliche Offensive

Russlands Außenminister Sergej Lawrow schob die Schuld an den neuen Gefechten Kiew zu. "Die Feuerpause vom Februar ist ständig durch Handlungen der Kiewer Behörden bedroht, die ihren Verpflichtungen entgehen wollen, einen direkten Dialog mit dem Donbass zu fördern", sagte Lawrow. Diese Darstellung widerspricht nicht nur den OSZE-Beobachtungen. Auch andere Berichte unterstreichen die entscheidende Rolle Russlands im Krieg in der Ostukraine - und Anzeichen für eine mögliche neue Offensive.

So legten sowohl der Atlantic Council in Washington als auch die britische Organisation Bellingcat detaillierte Berichte über die Organisation des Ukrainekriegs durch Moskau vor. Am Montag dieser Woche präsentierte Ivan Šimonović, Vize-Generalsekretär für Menschenrechte der Vereinten Nationen, einen weiteren Report. Es gebe "wachsende Belege, dass Soldaten im aktiven Dienst der russischen Armee in der Ukraine operieren", so Šimonović. "Der Rückzug ausländischer Kämpfer und der Stopp des Waffenzuflusses aus der Russischen Föderation hätte einen bedeutenden Einfluss auf Gesetz und Ordnung", sagte der Vize-Generalsekretär.

Russland sammelt Soldaten und Ausrüstung für den Krieg in der Ukraine in den grenznahen Regionen Rostow oder Belgorod, in großen Militärcamps wie Kujbischewo, Pawlowka oder Kusminskij. Allein in Kusminskij und dem nahen Bahnhof Matwejew Kurgan zählte eine Reporterin der Agentur Reuters Ende Mai Dutzende neu eintreffender Kampfpanzer, Granat- und Raketenwerfer. In der Nähe von Donezk hat das russische Militär im Dorf Petriwske ein Trainingslager in einem ehemaligen Feriencamp eingerichtet, legt ein OSZE-Bericht vom 28. Mai nahe.

Ukrainischer Präsident Poroschenko zeigt sich pessimistisch

Ein ehemaliger Rebellenführer aus Donezk hatte der SZ bereits im März gesagt, der Krieg werde vom Aufklärungs- und Sabotagedienst des russischen Generalstabes (GRU) gesteuert, jede Handlung der Separatisten von Moskau genehmigt. Ende Mai sprachen die BBC und Reuters in Kiew mit zwei von den Ukrainern gefangen genommenen GRU-Offizieren: Ihnen zufolge bestand alleine ihre in die Ukraine geschickte Einheit aus 200 Mann. Schon der Beginn des Krieges vor einem Jahr wurde von Igor Girkin kommandiert, der von EU und USA als aktiver GRU-Offizier identifiziert wurde. Girkin zufolge kontrolliert der Kreml das Geschehen sehr direkt: Am 31. Mai etwa soll Wladislaw Surkow, ein führender Politmanipulator des Kreml, zur weiteren Instruktion der Separatistenführer nach Donezk gereist sein.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko schätzt die Zahl russischer Soldaten in der Ostukraine auf 9000. Sollte Russland eine Offensive beschließen, stünden die Chancen der Ukraine schlecht: In Mariupol haben die dort stationierten Nationalgardisten nur Schusswaffen zur Verfügung und Berichten zufolge nicht einmal effektive Schützengräben ausgehoben. Poroschenko gab sich am Donnerstag pessimistisch: "Wir sind immer noch ein Staat mit minimaler Verteidigungsfähigkeit."

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Quelle:
SZ vom 05.06.2015
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