Ukraines Präsident Wolodimir Selenskij hat in Videobotschaften und Interviews bekräftigt, dass die Ukraine weiter gegen die russische Armee kämpfen und nicht kapitulieren werde. Selenskij wies auch Moskauer Forderungen zurück, mit einer Verfassungsänderung formell auf eine Nato-Zugehörigkeit zu verzichten und die Zugehörigkeit der von Russland rechtswidrig besetzten Krim zu Russland sowie die angebliche "Selbständigkeit" der von Moskau organisierten "Volksrepubliken" in Donezk und Luhansk anzuerkennen.
"Ich bin bereit zum Dialog, aber wir sind nicht zu einer Kapitulation bereit", sagte Selenskij dem US-Fernsehsender ABC. Selbst wenn russische Soldaten "in alle unsere Städte kommen, wird es einen Untergrundkrieg geben. Niemand wird unsere Unabhängigkeit hergeben". Selenskij bekräftigte lediglich - wie schon bei einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Kiew Mitte Februar -, dass die Aufnahme der Ukraine nicht auf der Tagesordnung stehe und Kiew dieses verbindlich in seiner Verfassung festgeschriebene Ziel aktuell nicht weiterverfolgen werde.
"Was die Nato angeht: Ich habe diese Frage abgekühlt, nachdem wir verstanden haben, dass die Nato nicht bereit ist, die Ukraine aufzunehmen." Die Ukraine werde nicht auf Knien um die Aufnahme bitten. "Wir haben nicht vor, ein solches Land zu sein, und ich will kein solcher Präsident sein", so Selenskij im ABC-Interview.
In seiner am Montagabend aufgenommenen täglichen Videobotschaft an die Ukraine zeigte sich Selenskij erst vor seinem Amtssitz im Zentrum von Kiew, dann in seinem Büro. Seit der Ausweitung des seit 2014 nur in der Ostukraine stattfindenden russischen Krieges auf große Teile der Ukraine am 24. Februar nimmt sich der ukrainische Präsident täglich im Präsidentenpalast auf und wendet sich mit Videobotschaften über die sozialen Medien an seine Landsleute. Drei Verhandlungsrunden mit Russland haben Selenskij zufolge bisher zu keinem greifbaren Ergebnis geführt.
Sprengkörper auf Wohnhäuser
Zwar einigten sich Ukrainer und Russen bei Gesprächen in Belarus auf Waffenpausen und Fluchtkorridore für Zivilisten aus belagerten und von Russland beschossenen Städten. Statt sich aber an die Feuerpause und sichere Korridore zu halten, hätten "russische Panzer weitergearbeitet", sagte Selenskij.
Auch in einer Rede vor dem britischen Unterhaus am Dienstag hat Selenskij den Kampfgeist beschworen und London um weitere Unterstützung gebeten. Für die Ukraine gehe es angesichts des russischen Angriffs um die Shakespear'sche Frage "Sein oder nicht sein", sagte der Präsident, der per Videotelefonat aus Kiew zugeschaltet war. Er könne angesichts des zähen Widerstands seiner Landsleute nun eine Antwort darauf geben. "Sie lautet definitiv: sein", sagte Selenskij.
In der eingeschlossenen 430 000-Einwohner-Stadt Mariupol scheiterte am Dienstag der vierte Versuch, mit der Evakuierung von 200 000 Menschen per Bus und Auto zu beginnen; ukrainischer Darstellung zufolge lag dies an weitergehenden russischen Bombardements.
Heftig gekämpft wird auch in Vorstädten Kiews, in der zweitgrößten Stadt Charkiw oder in der nahe der Grenze zu Russland liegenden 260 000-Einwohner-Stadt Sumi im Norden der Ukraine. Ukrainischen Berichten zufolge warfen russische Bomber dort Sprengkörper auf Wohnhäuser ab. Laut Staatsanwaltschaft kamen allein bei diesen Angriffen 21 Menschen ums Leben, darunter zwei Kinder. Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministers, veröffentlichte Bilder blutüberströmter Leichen, darunter des nach seinen Angaben neun Jahre alten Wadim Iwlew. Anderen Berichten zufolge gelang es am Dienstag in Sumi, mehrere Hundert Menschen in Dutzenden Bussen aus der umkämpften Stadt ins nahe gelegene Poltawa zu bringen. Auch diese Stadt gilt freilich als kommendes Ziel der russischen Armee.
UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi zufolge wurde am Dienstag die Zahl von zwei Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine erreicht. Weitere Millionen Menschen könnten hinzukommen: Allein aus der umkämpften 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt Charkiw wurden bis Dienstag 600 000 Menschen evakuiert, so der Militärgouverneur der Region. Die Vereinten Nationen haben Unterhändler nach Moskau geschickt, um über sichere Korridore für Zivilisten und UN-Personal zu verhandeln - Ergebnisse wurden bisher nicht bekannt. Viele Menschen fliehen nicht sofort nach Polen, Ungarn oder Rumänien, sondern zu Verwandten oder Freunden in den bisher noch nicht vom Krieg aktiv erfassten Westen der Ukraine. Militäranalysten gehen indes davon aus, dass Russland auch diesen Landesteil großflächig angreifen könnte.
Die russischen Truppen kommen langsamer voran
Bisher allerdings kommen die russischen Truppen wesentlich langsamer voran als vor Kriegsbeginn vorausgesagt. Mit Ausnahme der Hafenstadt Cherson haben sie noch keine ukrainische Großstadt erobert. Dem US-Verteidigungsministerium zufolge hat Moskau mittlerweile fast die gesamte Streitmacht in den Kampf geschickt, die es bis zum 24. Februar in und um die Ukraine zusammengezogen hatte. Der ukrainische Generalstab meldete am Dienstag Zusammenziehungen von Einheiten der belarussischen Armee und befürchtet einen möglichen Kriegseintritt dieser Truppen.
Der ukrainische Generalstab meldete zudem angebliche russische Verluste von 12 000 Toten und Verwundeten. Diese Angaben könnten zutreffen: Dem Forschungsdienst des US-Kongresses zufolge übersteigt die Zahl verwundeter Soldaten die gefallener Soldaten in Kriegen um ein Mehrfaches. Der New York Times zufolge gehen auch US-Offizielle von mindestens 3000 gefallenen russischen Soldaten aus. Die Ukraine will zudem über 300 Panzer und Aberhunderte gepanzerte Fahrzeuge sowie Dutzende Flugzeuge und Hubschrauber zerstört haben. "Russland hat in 30 Jahren nicht so viele Flugzeuge verloren wie in 13 Tagen in der Ukraine", freute sich Präsident Selenskij. Über ukrainische Verluste fehlen verlässliche Angaben.