Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Am Ende der Geduld

Seit Jahren kämpft ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung gegen Korruption, Nepotismus und politisches Chaos. Bisher ohne großen Erfolg. Russische Aggression hin oder her - ohne Reformen geht auch Europas Glaube an Kiew verloren.

Von Frank Nienhuysen

Um Julia Timoschenko war es etwas still geworden, aber jetzt hat sich die einstige Premierministerin der Ukraine mit Brachialgewalt in Erinnerung gerufen, wie das manchmal ihre Art ist. Ihr gewürzter Wortbeitrag zur schweren Regierungskrise in Kiew: Die proeuropäische Koalition hat niemals existiert. Hätte Timoschenko recht, so ließe sich die Europäische Union schon seit zwei Jahren zum Narren halten von einer Führung in Kiew, mit der Brüssel immerhin einen wichtigen Assoziierungsvertrag abgeschlossen hat. So pointiert, wie Timoschenko es formuliert, ist es nicht - trotzdem gibt die Ukraine wieder einmal ein zutiefst chaotisches, ja trauriges Bild ab. Dass im Parlament gelegentlich Farbbeutel und Fäuste fliegen, ist treffendes Symbol einer Hauruck-Politik, in der sich allzu oft der Stärkere brutal, schnell und kompromisslos durchsetzen will: mit Geld, mit Druck, mit Vetternwirtschaft.

Mehr als zehn Jahre nach der sogenannten orangenen Revolution zeigt sich Kiew erneut außerstande, die Hoffnungen vieler Menschen auf Demokratie und Stabilität einzulösen. Die Wirtschaft am Abgrund, die Korruption eine vielköpfige Hydra, die Justiz bedrängt von Privatinteressen, die Führung zerstritten, dazu Krieg im Osten - sehr viel fehlt auf den ersten Blick nicht mehr zu einem failed state, einem gescheiterten Staat mitten in Europa.

Es lässt sich eben ein europäischer Reformkurs sehr viel leichter zu Papier bringen, als in die Tat umsetzen. Denn das muss sich die ukrainische Führung um Präsident Petro Poroschenko und Premier Arsenij Jazenjuk vorwerfen lassen: Sie schafft es nicht, die Ukraine mit Nachdruck und im gebotenen Tempo von einem System zu befreien, in dem mächtige Oligarchen Strippen ziehen, die Politik mitbestimmen und den Umbau des Staates sabotieren. Die Auswirkungen können fatal sein, denn letztlich steht für die Ukraine auch der europäische Gedanke auf dem Spiel, sollte in Kiew das Hauen und Stechen weitergehen wie bisher.

Europa und die Ukrainer haben das Chaos in Kiew längst satt

Wie schnell sich der Europa-Kurs bei Misserfolgen auch diskreditieren lässt, kann sich die Ukraine beim Nachbarstaat Moldau abschauen. Deshalb darf der Westen nun nicht einfach hinwegsehen über die Kabale in Kiew, auch wenn ihm das Duo Poroschenko/Jazenjuk lieber sein mag, als es der moskautreue Präsident Viktor Janukowitsch einst war. Er muss dem Prinzip folgen: Hilfe gegen Reformen. Schon das Milliarden Euro umfassende Kreditprogramm des Internationalen Währungsfonds ist derart verknüpft - Geld fließt, wenn die Korruption bekämpft wird. Der Druck auf Kiew wird jetzt also noch einmal steigen, das Reformlager, das es ja gibt, zu stärken.

Das ist schwer genug. Das Land ist nicht nur von einem Krieg betroffen, sondern muss auch ein in Jahrzehnten gefestigtes Netz aus Nepotismus, Oligarchentum und Justizklüngel zerreißen. Eine Alternative gibt es nicht. Andere Länder der früheren Sowjetunion schleppen derlei Gepäck zwar auch noch mit sich herum. Aber autoritäre Regime laufen für gewöhnlich gut damit - der Elite geht es prächtig, die Bevölkerung hat zu kuschen. Anders in der Ukraine: Fast das ganze Land, nicht nur ein paar tapfere Oppositionelle, kämpft seit mehr als einem Jahrzehnt für Freiheit und Fortschritt. Es gibt einen Markt von Meinungen, einen mehrheitlichen Wunsch nach einem Rechtsstaat europäischen Formats.

Diese Errungenschaft hat die Ukraine anderen Ländern aus dem Erbe der Sowjetunion voraus; auch deswegen ist die Erwartung an die Politik so hoch - und jetzt die Enttäuschung so groß. Zu Recht. Viel Kredit hat Poroschenko nicht mehr, weder in Europa noch bei seinem Volk. Bringen die nächsten Monate keine Erfolge, wäre er der nächste Präsident, der scheitert.

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SZ vom 18.02.2016
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