Die Ukraine hat seit Beginn des Krieges das wohl stärkste Symbol der Unterstützung erhalten. In der Hauptstadt Kiew lieferten die politischen Führungen Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Rumäniens der Ukraine das von ihnen erhoffte Signal der Unterstützung für eine EU-Kandidatur - wenn auch teils mit Vorbehalt. "Wir vier unterstützen den Kandidatenstatus der Ukraine. (...) Wir gehen davon aus, dass diese Entscheidung gefällt wird", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch im Namen von Bundeskanzler Olaf Scholz, Italiens Premier Mario Draghi und Rumäniens Präsident Klaus Johannis.
Doch erst der EU-Gipfel am 23./24. Juni entscheidet über den Kandidatenstatus für die Ukraine. Der Kanzler ergänzte, Deutschland wolle dort "eine positive Entscheidung für die Ukraine". Doch sei die Mitgliedschaft an klare Kriterien geknüpft. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sagte, eine positive Entscheidung beim EU-Gipfel könne "die historische Freiheit der Ukraine stärken". Doch die Ukraine verstehe, dass es bis zu einer Aufnahme in die EU "ein langer Weg sein wird".
Vorerst aber ist unklar, ob die Ukraine auch nur den Status als EU-Beitrittskandidat bekommt. Darüber ist in der EU ein heftiger Streit entbrannt. Die für Freitag erwartete Empfehlung der EU-Kommission verzögerte sich, weil keine abgestimmte Vorlage für die Regierungschefs erzielt werden konnte. Vor allem in Spanien und Portugal, Holland, Dänemark und Österreich gibt es Widerstand - diese Länder sehen die etwa in Rechtsstaats- und Korruptionsranglisten weit zurückliegende Ukraine nicht als reif für den Kandidatenstatus, der gewöhnlich erst nach umfangreichen Reformen verliehen wird.
Der Widerstand erklärt sich auch mit der Aussicht, dass eine Aufnahme der Ukraine das Finanzgefüge der EU deutlich verschieben würde. So würde etwa Polen, das heute stark von EU-Geldern profitiert, zu einem Nettozahler in der Union. Und viele Balkanstaaten warten schon seit Jahren erfolglos auf den Kandidatenstatus oder ihre Aufnahme in die EU.
Die Führer der drei wichtigsten EU-Länder wollten mit ihrem Besuch "eine Botschaft der Einheit" senden, wie es der französische Präsident ausdrückte. Gemeinsam mit Johannis, der aus Rumänien anreiste, besuchten sie den Kiewer Vorort Irpin, wo russische Soldaten während ihrer wochenlangen Besetzung Irpins Bürgermeister zufolge bis zu 350 Menschen ermordet hatten, die meisten von ihnen Zivilisten. "Es sind unschuldige Zivilisten betroffen, und es ist eine Stadt zerstört worden, in der überhaupt gar keine militärischen Infrastrukturen waren," so Scholz. "Das sagt viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist", sagte der Kanzler. Russland treibe den Krieg "mit größter Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenleben voran".
Besuch unter Sirenenalarm
In Kiew ist es seit Wochen vergleichsweise ruhig - doch allein am Vormittag des Besuches der europäischen Staats- und Regierungschefs ertönten zwei Mal die Sirenen zum Luftalarm. Ukrainische Offizielle schlossen in den letzten Tagen einen erneuten russischen Angriff auf die Hauptstadt nicht aus. Das militärische Hauptaugenmerk allerdings liegt auf dem Ostteil des Landes, wo die Ukraine täglich bis zu 200 tote Soldaten und mehr als 500 Verwundete beklagt und die ukrainische Armee vor allem in Artilleriegefechten stark unterlegen ist.
Von Kiews westlichen Waffenlieferanten steht Deutschland besonders in der Kritik. Vor der Reise äußerte sich erneut der ukrainische Botschafter AndrijMelnyk und behauptete, dass noch keine einzige schwere Waffe geliefert worden sei. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak forderte zuletzt die Lieferung von 1000 Granatwerfern, 500 Panzern und 300 Raketenwerfern. Westlichen Regierungskreisen zufolge soll die Ukraine allerdings in vielen Fällen weder die etwa für Panzerversorgung notwendige Infrastruktur haben noch dafür geschulte Soldaten.
Scholz selber sagte in Kiew: "Wir unterstützen die Ukraine auch mit der Lieferung von Waffen, und wir werden das weiterhin tun, solange die Ukraine unsere Unterstützung benötigt." Selenskij bestätigte, es würden Waffen geliefert, auch die gewünschten. "Hier hilft uns Deutschland sehr", sagte er.
Russlands Ex-Präsident und ehemaliger Regierungschef Dmitrij Medwedjew, heute Vizevorsitzender des russischen Sicherheitsrates, nannte die westlichen Führer "europäische Kenner von Fröschen, Leberwurst und Pasta". Der Nutzen ihres Besuchs in Kiew sei "null. Wieder versprachen sie den Beitritt zur EU und alte Granatwerfer, tranken ein paar Schlucke ukrainischen Wodka und nahmen den Zug nach Hause, wie vor 100 Jahren ... Aber dem Frieden bringt dies die Ukraine nicht näher. Und die Uhr tickt", kommentiert der Ex-Präsident. Kremlsprecher Dmitrij Peskow ergänzte, er hoffe, die europäischen Führer würden sich "nicht nur darauf konzentrieren, die Ukraine zu unterstützen, indem sie sie mit Waffen vollpumpen".