Der Sieg des Ukip-Kandidaten Mark Reckless bei der Nachwahl zum Parlamentsabgeordneten im südostenglischen Wahlkreis Rochester and Strood ist ein schwerer Schlag für die Tories von Premier David Cameron. Zwar hat Reckless der europafeindlichen Partei mit 42 Prozent nicht ganz so viele Wählerstimmen eingebracht wie einige Umfragen angedeutet hatten. Aber das Ergebnis dürfte sechs Monate vor den Unterhauswahlen trotzdem "die Panik in den Reihen der Konservativen erhöhen", schreibt etwa der Guardian. Und der Daily Telegraph bezeichnete es als "totale Katastrophe" für die Tories.
Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist da die Person des Kandidaten selbst. Reckless war seit 2010 bereits Abgeordneter für den Wahlkreis im Parlament in London. Allerdings für die Tories. Er ist vor einigen Wochen zur Ukip übergelaufen und hat deshalb sein Mandat niedergelegt. Jetzt bekommt er es wieder. Und zwar obwohl die Tories alles daran gesetzt haben, das zu verhindern.
Der Wahlkreis müsse auf jeden Fall gehalten werden, hatte Parteichef Cameron gefordert. Tory-Abgeordnete gaben sich im Wahlkampf dort die Klinke in die Hand. Selbst der Premier unterstützte die Kandidatin der Konservativen, Kelly Tolhurst, mit gleich fünf Besuchen. Mit Tolhurst hatte die Partei entgegen den Gepflogenheiten eine Kandidatin aufgestellt, die aus dem Wahlkreis selbst stammt. Das sollte das Versprechen untermauern, Tolhurst würde die Ansprüche der Bevölkerung tatsächlich kennen und für sie eintreten. Umso größer ist die Blamage für Cameron und die Konservativen. Tolhurst erhielt keine 35 Prozent der Wählerstimmen.
Wie viele Tories laufen noch über?
Reckless ist außerdem bereits der zweite Ex-Tory im Londoner Parlament, der zu Ukip übergelaufen ist und danach auch noch sein Mandat verteidigen konnte. Im Oktober ist das bereits Douglas Carswell gelungen. In diesem Fall war der Schock noch nicht ganz so groß. Carswell hatte zuvor die Politik Camerons deutlich heftiger kritisiert als Reckless. Und Carswells Wahlkreis Clacton in Essex ist derjenige mit den meisten Ukip-Anhängern im ganzen Land. Sein Erfolg hätte eine Ausnahme sein können.
Doch Reckless' Sieg zeigt: Ein Wechsel der Partei bedeutet nicht notwendig den Verlust des Mandats. Das könnte in den kommenden Monaten viele potenzielle Überläufer ermutigen. Und der Sieg von Reckless signalisiert an die Wähler: Eine Stimme für die Ukip ist keine verlorene Stimme. Die EU-Gegner unter den Konservativen dürften sich deshalb deutlich gestärkt sehen.
Problematisch für die Tories ist auch, dass ihr ehemaliger Parteikollege das Erscheinungsbild der Ukip verändert. Die rechtspopulistische Partei funktionierte bislang eher als Anti-Establishment-Partei und eine Art Klub der guten Laune. Mit Wonne halten die Mitglieder sich nicht an die Regeln der politischen Korrektheit, was immer wieder zu Aufregung führt. Legendär ist die Aussage eines Ukip-Mannes, die Überschwemmungen des Frühjahrs seien Gottes Strafe dafür gewesen, dass das Parlament die Homo-Ehe gebilligt hat. Ukip-Chef Nigel Farage selbst gibt sich gern jovial und verspottet die "Eliten in Westminster".
Mark Reckless aber ist ein typischer Vertreter genau dieser Eliten. Er hat in Oxford und an der Columbia Business Schlool in New York studiert. Er will zwar, dass Großbritannien aus der EU austritt und hat sich für eine deutliche Einschränkung der Einwanderung ausgesprochen. Doch er hat sich für eine als fremdenfeindlich wahrgenommene Äußerung entschuldigt und erklärt, europäische Migranten "sind jetzt hier als Teil unseres Landes und sie werden immer willkommen sein".
Ukip-Sieger im Stammland der Tories
Der Vertreter der "Westminster-Elite" hat außerdem in einem Wahlkreis gewonnen, der typisch ist für den Südosten Englands, das Stammland der Tories. Im Gegensatz zu Clacton, der Ukip-Hochburg, ist die Zahl der Arbeitslosen und Geringverdiener in Rochester and Strood deutlich niedriger, Einkommen und Bildung sind höher. Wenn die Konservativen Wahlkreise wie Rochester in Kent verlieren, dann sind ihre Aussichten auf eine Mehrheit nach den Parlamentswahlen im Mai 2015 trübe.
Zwar weisen die Tories nun zu Recht darauf hin, dass Nachwahlen häufig zum Protest gegen die Politik aus London genutzt würden. Zuverlässige Vorhersagen für die Parlamentswahlen 2015 seien deshalb nicht möglich. Reckless aber gibt sich optimistisch. "Wenn wir hier gewinnen können, können wir im ganzen Land gewinnen", sagte er nach seinem Sieg.
Zum Teil dürften die Konservativen, aber auch die Labour-Partei einiges zu den Erfolgen der Rechtspopulisten beigetragen haben. Beide Parteien haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich die Zahl der Einwanderer begrenzen ließe. Damit haben sie die Positionen von Ukip eher gestärkt als geschwächt. Dazu kommt Matthew Goodwin von der Nottingham University zufolge, dass Ukip nicht mehr als Bande von Amateurpopulisten abgetan werden kann. Der Politikwissenschaftler hat die Wahlkampagnen der Partei untersucht. Wie er im Telegraph schreibt, verwendet Ukip seit der Wahl in Clacton ein modernes "Wähler-Identifizierungssystem", das Informationen über alle Wahlberechtigte enthält. Die Daten ermöglichen ihnen, ihre Botschaften den verschiedenen Ansprüchen der Wähler gut anzupassen. Offenbar mit Erfolg.
Den Tories droht eine Erosion am rechten Rand und zugleich ein Verlust von Teilen der Stammwählerschaft. Das könnte mittelfristig zu einer Kontinentalverschiebung in der britischen Politik führen. Wenn es im rechten Teil des politischen Spektrums zum Schisma kommt, ist unklar, wie die Konservativen in absehbarer Zeit wieder eine Mehrheit im Unterhaus erringen soll. Rochesters Tory-Kandidatin Tolhurst, kündigte laut Guardian trotzdem an: "Ich werde nicht zulassen, dass Ukip (Labour-Chef) Ed Miliband in die (Downing Street) Nummer 10 bringt." Denn Ukip würde so dafür sorgen, dass es zu höheren Steuern, mehr Schulden, unkontrollierter Einwanderung und Fürsorge käme.
Anders als der Guardian konnte die BBC zwar noch keine Hinweise darauf erkennen, dass unter den Tories nun Panik herrsche oder jemand den Rücktritt Camerons fordert. Doch vielleicht wird Rochester dereinst als der Ort gelten, in dem der Abschied der Tories von der Macht begann.