AKW-Überprüfung:Wenn bei Sturm ein Jet abstürzt und der Notstrom ausfällt

Deutsche Kernkraftwerke galten bislang als vergleichsweise sicher. Doch seit der Katastrophe in Japan werden alte Fragen neu gestellt: Was ist mit Erdbeben, Terrorangriffen, Flugzeugabstürzen? Fachleute sollen nun klären, welche Meiler nachgerüstet werden müssen. Kritiker sagen, die Prüfung komme viel zu spät.

Michael Bauchmüller und Christopher Schrader

Eigentlich erwartet die knapp 100 Reaktorexperten nichts Neues. Die meisten von ihnen kennen sich in den deutschen Kernkraftwerken aus, Überraschungen werden sie kaum erleben. Was neu ist, sind ihre Maßstäbe: Sie finden sich auf fünf Seiten eng bedruckten Papiers. Es geht dort um Hochwasser, um Erdbeben, um "zivilisatorisch bedingte Ereignisse". Und immer wieder um "Überlagerungen", also um Fälle, in denen mehrere Probleme gleichzeitig auftreten. Das alles steht in dem Prüfkatalog, den die Reaktorsicherheitskommission (RSK) entworfen hat - als wissenschaftlich-technische Antwort auf Fukushima.

Aus für älteste Atomkraftwerke rückt näher

Deutschlands Atomkraftwerke werden überprüft: Das Archivbild zeigt den Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 1 und 2 in Niederbayern.

(Foto: dpa)

"Es geht darum, gerade Dinge zu berücksichtigen, die wir noch nicht kannten", sagt Rudolf Wieland, der Vorsitzende der Kommission. "Was passiert zum Beispiel, wenn Teile von Sicherheitskomponenten nicht mehr vorhanden sind?" Es sind die Unwägbarkeiten und Überlagerungen, die auch das Erdbeben in Japan nach und nach zur Katastrophe machten. Dort versagte eine Sicherheitsebene nach der anderen.

An der Kante der Klippe

Genau darauf sollen die Gutachter in der neuen Überprüfung achten. Wie viel Reserven bleiben deutschen Reaktoren, wenn zum Beispiel Erdstöße nicht nur die Stromleitungen von außen zerstören, sondern auch die Straßen der Umgebung, wenn eine Flutwelle Schlamm und Geröll in die Ansaugstutzen für Kühlwasser drückt und sie verstopft, wenn vielleicht noch ein Schneesturm herrscht und länger als drei Tage lang weder zusätzliche Helfer noch Lastwagen mit Material zum Reaktor durchkommen? Wenn gleichzeitig eine inzwischen hohe Strahlung im Kernkraftwerk die Besatzung daran hindert, Ventile zu erreichen?

Experten haben für dieses Zusammentreffen einen Ausdruck, er heißt Cliff Edge - zu Deutsch: an der Kante der Klippe. Bis dahin läuft alles nach Plan - doch jenseits der Kante geraten Dinge außer Kontrolle. "Plötzlich haben wir dann Änderungen im Ereignisablauf", sagt Wieland. Etwa, wenn der Strom in einem Kraftwerk ausfällt, die Batterien aber erschöpft sind. Bisher müssen die deutschen Kernkraftwerke in einem solchen Fall zwei Stunden autark versorgt werden können - nun soll eine Aufstockung dieser Anforderung untersucht werden.

Auch der Absturz von Verkehrs- oder Militärmaschinen wird neu überprüft, für verschiedene Flugzeugtypen und Absturzwinkel, verschieden große Mengen Kerosin; ebenso Cyber-Angriffe auf die Steuerungssysteme von Reaktoren - und das alles auch unter "erschwerenden Randbedingungen". Es handele sich um die "am weitesten gehende Anforderungsliste", der sich Reaktoren bisher stellen mussten, sagt Wieland.

Die Kölner Gesellschaft für Reaktorsicherheit soll die Prüfung vornehmen, in sieben Gruppen wollen die Experten die deutschen AKWs abklopfen, die ältesten zuerst. Es ist ein fast schon halsbrecherisch schnelles Verfahren. Vieles davon wird sich auf Papier stützen, auf Angaben über die Auslegung der Anlagen.

Die Unterschiede zwischen den Kraftwerken sind gewaltig: Schon seit Jahren sprechen Experten über genau die Zweiteilung des deutschen Reaktorparks, die durch die - zunächst vorübergehende - Stilllegung der acht ältesten Reaktoren eingetreten ist. Die Meiler Brunsbüttel, Krümmel, Isar-1, Philippsburg-1, BiblisA und B, Neckarwestheim-1 und Unterweser gehören zu den ältesten beiden Baureihen in Deutschland. Sie sind mit einer Ausnahme nicht einmal gegen den Absturz eines größeren Kampfflugzeugs ausgelegt. Bei vielen gibt es Zweifel an der Qualität des Stahls und der Schweißnähte.

Kritiker monieren das Design des Kühlsystems und die Größe der Kühlwasserreserven. Vier der Reaktoren haben im Dachgeschoss relativ ungeschützt ein Abklingbecken für gebrauchte Brennelemente, was sich in Fukushima als unerwartetes Problem erwiesen hat.

Absolute Sicherheit gibt es nicht

Auch die Statistik der meldepflichtigen Ereignisse teilt die deutschen Reaktoren in die gleichen Gruppen. Bei jedem der acht alten Meiler geht im Durchschnitt jeden Monat etwas schief, bei den jüngeren passiert halb so häufig etwas. Zudem sind fast alle Fälle, bei denen Radioaktivität an die Umwelt abgegeben wurde, in den älteren Anlagen passiert.

Nach sechs Wochen harter Arbeit könnten die Gutachter zum Schluss kommen, dass in manchen deutschen Reaktoren auch kein Umbau mehr hilft, andere aber nachgerüstet werden können. Absolute Sicherheit lässt sich so aber nicht erreichen, das Restrisiko bleibt Deutschland erhalten.

"Irgendwo ganz zum Schluss wird immer eine Unwissenheit bleiben", sagt RSK-Chef Wieland. "Wie in allen Lebensbereichen."

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