Überhangmandate:Aus Sechs mach Sieben und Acht

Hexeneinmaleins und Wahlrecht: Warum Karlsruhe es erlaubt, dass der Bundestag im September auf verfassungswidrige Weise gewählt wird.

Heribert Prantl

Jeder glaubt, dass einzig und allein der Wähler am 27. September entscheidet, wie der nächste Bundestag aussieht. Aber das stimmt nicht so ganz. Über den nächsten Bundestag und damit über die nächste Bundesregierung ist in gewisser Weise schon vor fast einem Jahr entschieden worden - vom Bundesverfassungsgericht, am 3. Juli 2008.

Überhangmandate: Der Plenarsaal des Bundestags in Berlin: Wer die Mehrheit hat, kann derzeit noch von den Überhangmandaten abhängen.

Der Plenarsaal des Bundestags in Berlin: Wer die Mehrheit hat, kann derzeit noch von den Überhangmandaten abhängen.

(Foto: Foto: dpa)

Die Richter fällten damals ein Urteil, welches das geltende Wahlgesetz und das bisherige Wahlverfahren für "widersinnig", "willkürlich" und damit verfassungswidrig erklärt hat. Dieses derzeitige Wahlrecht führt nämlich unter anderem zu dem seltsamen Ergebnis, dass ein Mehr an Stimmen zu einem Weniger an Mandaten führen kann. Gleichwohl akzeptierten die Richter, dass der nächste Bundestag noch einmal nach diesem verfassungswidrigen Wahlrecht gewählt wird. Womöglich wird also der Kanzler oder die Kanzlerin mit einer Kanzlermehrheit gewählt, die auf "widersinnige", "willkürliche" und damit verfassungswidrige Weise zustande gekommen ist.

Das stieß schon vor einem Jahr auf viel Unverständnis. Ernst Gottfried Mahrenholz, ehemals Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, hielt mit seiner Kritik an der Entscheidung seines früheren Senats nicht hinter dem Berg: Der Bundestag habe nach der Verfassung die Pflicht, nach einem einwandfreien Wahlgesetz wählen zu lassen. Hat also das Gericht seine Kompetenzen überschritten, weil es die nächste Wahl von den Verpflichtungen aus Artikel 38 - dazu gehört die Gleichheit der Wahl - befreit?

Nun weiß man, dass das Bundesverfassungsgericht praktisch alles darf. Es kann und darf aber nicht die Verfassung ändern. Durfte es also sehenden Auges sagen: "Ihr könnt noch einmal verfassungswidrig wählen?" Womöglich hätte es dies wirklich nicht sagen dürfen - aber es hat nun einmal so geurteilt.

Das macht es nun der Union leicht, die ansteigende Empörung der SPD zurückzuweisen: Es gibt nun einmal keine Instanz über dem Verfassungsgericht. Und die Empörung in der SPD ist erst in dem Maß gestiegen, in dem sich abgezeichnet hat, dass die Seltsamkeiten des Wahlrechts diesmal besonders stark der Union zugutekommen könnten. Das bringt die - richtigen - verfassungsrechtlichen Bedenken der SPD in den Ruch der Scheinheiligkeit.

Ein vergiftetes Wahlgesetz ist Gift für die Demokratie

Die Grünen haben ein neues Wahlgesetz vorgelegt, über das am Freitag im Bundestag abgestimmt werden soll. Die SPD streitet, ob sie nicht - entgegen der Koalitionsabsprache mit der Union - zustimmen soll. Die Vorlage des Gesetzentwurfs durch die Grünen ist ein Beleg dafür, dass eine Prämisse der Verfassungsrichter nicht unbedingt gestimmt hat: Das Gericht glaubte, die notwendigen Änderungen des Wahlgesetzes seien so komplex und kompliziert, dass die Politik dazu nicht nur Monate, sondern Jahre brauchen werde; also genehmigte das Gericht eine Übergangsfrist bist zum Jahr 2011.

Intern haben sich Richter mit dem Argument gerechtfertigt: "Das machen wir doch beim Steuerrecht auch so, dass wir zugunsten eines guten Ergebnisses Leine lassen!" Die Frage lautet aber: Ist es nicht ein entscheidender Unterschied, ob Karlsruhe dem Gesetzgeber viel Zeit lässt, die Fahrtkostenpauschale neu zu regeln, oder ob es ihm viel Zeit lässt, den Wahlakt, also den Kern der Demokratie, verfassungsgemäß zu gestalten?

Ein quasi vergiftetes Wahlgesetz ist Gift für die Demokratie. Daran haben die Verfassungsrichter in ihrem Urteil keinen Zweifel gelassen. Warum sie gleichwohl keine sofortige Entgiftung angeordnet haben, hat zwei Gründe, die man mit lateinischen Sprichwörtern schön beschreiben kann. Das erste Sprichwort ist ein juristisches, das zweite ein medizinisches. Das erste heißt: "Judex non calculat" - der Richter rechnet nicht. Eigentlich bedeutet das, dass offensichtliche Rechenfehler in einem Urteil nicht schaden, also ohne weiteres berichtigt werden können. Im übertragenen Sinn erklärt man mit diesem Spruch den juristischen Horror vor Zahlen und vor allem, was nach Mathematik riecht.

Zwar hatte der Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim den Verfassungsrichtern in der mündlichen Verhandlung klug erklärt, dass und wie man ein gutes neues Gesetz in wenigen Monaten hinkriegen könnte. Aber die Richter hielten die Rechnereien des Mathematikers mit den Erst- und Zweitstimmen wohl für eine Art Hexeneinmaleins: "Du musst verstehn! Aus Eins mach Zehn. Und Zwei lass gehn, und Drei mach gleich, so bist Du reich.

Verlier die Vier! Aus Fünf und Sechs, so sagt die Hex', mach Sieben und Acht, so ist's vollbracht!". So deklamiert es die Hexe in Goethes "Faust", derweil sie den Zaubertrank braut; so ähnlich klangen die Rechnereien für die Richter. Für den neuen wahlgesetzlichen Zaubertrank, so meinten die Richter, brauche der Gesetzgeber Zeit - bis 2011.

Allein die Menge macht das Gift

Das zweite einschlägige Sprichwort stammt aus der Medizin, von Paracelsus: "Dosis sola venenum facit" - allein die Menge macht das Gift. Die Richter haben zwar die Giftigkeit erkannt, aber die Dosis des Gifts, die Toxizität des noch geltenden Wahlrechts, unterschätzt. Sie haben nämlich in ihrem Urteil nicht die Möglichkeit beachtet, dass mit Hilfe des widersinnigen Wahlsystems, also mit Überhangmandaten, unter Umständen die Kanzlermehrheit gebildet werden kann - und dass die Legitimität der nächsten Regierung dann auf einem verfassungswidrigen Fundament steht.

Nach dem 27. September wird das Verfassungsgericht über Wahlprüfungsbeschwerden entscheiden müssen, die sich auf die Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze berufen werden. Das Gericht wird dann sagen müssen: Die haben zwar recht, kriegen aber trotzdem nicht recht - denn wir haben es so erlaubt!

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