Kriegsverbrechen im Libyen-Krieg:Überlebender berichtet von Massenerschießung

Dutzende Leichen in Krankenhäusern und gefesselte Tote auf den Straßen: Während der Krieg in Libyen weiterhin tobt und die Rebellen ihren Hauptsitz nach Tripolis verlagern, häufen sich die Berichte über Gräueltaten auf beiden Seiten. Ein Opfer erzählt von einer Massenerschießung durch Gaddafi-Truppen. Aber auch die Aufständischen sollen Kriegsverbrechen begangen haben.

Die Rebellen haben die politische Arbeit in der libyschen Hauptstadt aufgenommen. Der Vizepräsident des Exekutivkomitees, Ali Tarhuni, gab offiziell bekannt, dass die politische Vertretung der Aufständischen von nun an in Tripolis arbeite. Sein Kabinett bekommt internationale finanzielle Unterstützung: Der UN-Sicherheitsrat in New York hat die Freigabe von 1,5 Milliarden Dollar (eine Milliarde Euro) gebilligt, die in den USA eingefroren waren.

Tarhuni kündigte an, dass der Präsident des Übergangsrates, Mustafa Abdel Dschalil, nach Tripolis kommen werde, sobald die Sicherheitslage dies zulasse. Am Donnerstag waren bereits acht Ratsmitglieder in der Hauptstadt eingetroffen, darunter die Verantwortlichen für Gesundheit, Kommunikation, Inneres, Justiz und Verteidigung. Am Freitag sollten sechs weitere Mitglieder dort eintreffen.

Die libyschen Rebellen hatten ihren Übergangsrat kurz nach dem Beginn der Revolte am 27. Februar in der östlichen Stadt Bengasi gegründet.

Überlebender berichtet von Massenerschießung

Die Kämpfe gegen die Anhänger von Gaddafi und die Suche nach dem abgetauchten Machthaber gehen indes weiter. Es gibt Hinweise auf Gräueltaten auf beiden Seiten. Ein Reporter der britischen BBC berichtete, in ein Krankenhaus im Bezirk Mitiga seien die Leichen von 17 Rebellen eingeliefert worden, die offenbar von Gaddafi-Truppen gefoltert und erschossen worden seien. Ein weiterer Korrespondent der BBC sah im Zentrum der Hauptstadt zwei Leichen von Gaddafi-Kämpfern, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren.

Mehr als 40 Leichen sollen in einem verlassenen Krankenhaus im Stadtteil Abu Salim gefunden worden sein. Das berichtet die Nachrichtenagentur dapd. Demnach hätten sich 21 Leichen in einem Raum der Klinik befunden, weitere 20 hätten im Hof gelegen. Über die Identität der Toten sei nichts bekannt.

Zu einer Massenerschießung von Zivilisten durch Gaddafi-treue Truppen soll es am vergangenen Dienstag gekommen sein, als die Rebellen in Tripolis begannen, den Palast des Despoten zu stürmen. Ein Überlebender des mutmaßlichen Massakers erzählte dem arabischen TV-Sender al-Dschasira, die Gaddafi-Getreuen hätten 25 Zivilisten an einer Wand aufgestellt und erschossen. Er selbst sei in die Schulter, die Hand und den Oberschenkel getroffen worden, habe aber überlebt. Ein anderer Gefangener habe fliehen können, alle anderen Opfer seien tot.

Dem Bericht zufolge sind die Ärzte in den Krankenhäusern von Tripolis nicht in der Lage, Leichen auf Kriegsverbrechen zu untersuchen. Ärzte des International Medical Corps, einer medizinischen Hilfsorganisation mit Hauptsitz in Los Angeles, würden die Opfer jedoch inzwischen fotografieren, um spätere Untersuchungen zu ermöglichen.

Die Rebellen versprachen Gaddafis Truppen indes freies Geleit, sollten sie ihre Waffen niederlegen: "Wir versprechen euch, dass wir keine Rache üben werden. Zwischen uns und euch steht das Gesetz", sagte Tarhuni. Er kündigte an, die neue libysche Führung werde mindestens bis zu den ersten freien Wahlen alle Verträge mit ausländischen Firmen und Staaten einhalten.

Europäische Söldner unter Gefangenen

Auf die Gerüchte um Menschenrechtsverletzungen angesprochen, bestätigte ein Vertreter der Aufständischen zwar, dass es in Tripolis ein "Gefängnis" gebe, in dem etwa 200 gefangene Kämpfer der Gaddafi-Truppen festgehalten würden. Unter ihnen seien angeblich nur wenige Libyer. Die meisten Gefangenen seien afrikanische und auch einige europäische Söldner. Die Europäer stammten vermutlich aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Von standrechtlichen Erschießungen durch die Rebellen wisse er nichts.

Den Angaben weiterer Aufständischer zufolge gibt es Plünderungen, die sich auf die Besitztümer der Gaddafi-Familie konzentrieren. Ein Rebell schwenkte vor dem Eingang zu dem Saal, in dem die Pressekonferenz des Aufständischen-Kabinetts stattfand, Postkarten mit Fotomontagen, auf denen zu sehen ist, wie US-Präsident Barack Obama als Bittsteller vor Gaddafi kniet. Der Rebell sagte, er habe diese und ähnliche Karten in einem bisher immer für Gaddafis Sohn Al-Saadi reservierten Hotelzimmer in Tripolis gefunden.

Geld für Übergangsrat und Benzin

Der Chef der inoffiziellen Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, hält sich derzeit in Europa auf, um Verhandlungen über weitere eingefrorene Guthaben des Gaddafi-Regimes zu führen.

Übergangsregierung in Tripolis

Rebellen feiern in Tripolis den Umzug des Nationalen Übergangsrates von Bengasi in die Hauptstadt.

(Foto: dpa)

Mit den freigegebenen 1,5 Milliarden US-Dollar will der UN-Sicherheitsrat eine humanitäre Krise in Libyen verhindern. Nach dem Willen Washingtons soll das Geld zu je einem Drittel an den Übergangsrat, in die internationale humanitäre Hilfe für Libyen und in einen Hilfsfonds fließen, aus dem Treibstoff und andere dringend benötigte Güter finanziert werden sollen.

Die Entscheidung fiel auf Druck der USA in dem Komitee des Sicherheitsrates für die Libyen-Sanktionen. Sie wurde erst möglich, als Südafrika, ein langjähriger Verbündeter Libyens unter Gaddafi, seinen Widerstand aufgab. Pretoria hatte sich widersetzt, weil es fürchtete, die Freigabe könne als automatische Anerkennung des Nationalen Übergangsrates der Rebellen durch die Vereinten Nationen gewertet werden. Weder Südafrika noch die Afrikanische Union haben den Rat jedoch bislang anerkannt.

Der Sicherheitsrat hatte vor einem halben Jahr scharfe Sanktionen gegen das Regime Gaddafi erlassen, darunter war auch das Einfrieren der Konten. Bei den Geldern handelt es sich um Vermögen des damaligen Machthabers, von Mitgliedern seiner Familie, seines inneren Kreises, der libyschen Zentralbank und der nationalen Ölgesellschaft. Außerdem hatte der Rat ein Waffenembargo und Reisebeschränkungen für 16 Mitglieder der Führungsspitze erlassen. Nach Angaben von Diplomaten liegen insgesamt etwa 30 Milliarden Dollar (knapp 21 Milliarden Euro) libyscher Auslandsguthaben auf Eis.

Das Geld solle auch die finanzielle Position der Rebellenführung stärken und Libyens Wiederaufbau nach monatelangen schweren Kämpfen unterstützen, hieß es in New York.

100-Millionen-Finanzspritze aus Deutschland

Im Kreis der deutschen UN-Delegation wurde die amerikanische Initiative begrüßt. Weiter hieß es, dass ein generelles Entsperren der international eingefrorenen libyschen Gelder aus deutscher Sicht wünschenswert sei. Im Vorgriff darauf habe die Bundesregierung dem Übergangsrat in Libyen diese Woche bereits einen Kredit von bis zu 100 Millionen Euro für humanitäre und zivile Zwecke zur Verfügung gestellt.

Der italienische Außenminister Franco Frattini kündigte an, Italien werde in der kommenden Woche 505 Millionen Dollar (350 Millionen Euro) eingefrorener Gelder freigeben. Zuvor hatte bereits ein Rebellenvertreter mitgeteilt, die Libyen-Kontaktgruppe wolle bis Mitte kommender Woche die Freigabe von 2,5 Milliarden Dollar (1,7 Milliarden Euro) forcieren.

Gaddafis jüngste Botschaft an die "Ratten"

US-Außenministerin Hillary Clinton nannte die kommenden Tage und Wochen für Libyen "kritisch". In einer Erklärung forderte sie die Rebellen auf, einen sicheren und demokratischen Staat zu bilden und warnte vor Racheakten. Die Zukunft des Landes werde nur dann friedlich sein, wenn die politischen Führer und die Bevölkerung sich untereinander im "Geiste des Friedens" begegneten.

Clinton forderte die Rebellen auf, sich gegen "extremistische Gewalt" zu stellen. Sie würden genau beobachtet, um sicherzustellen, dass Libyen seiner internationalen Verantwortung gerecht werde, dass Libyens Waffenlager keines der Nachbarländer bedrohten oder in falsche Hände gerieten, erklärte Clinton.

Während die Minister des Nationalen Übergangsrates in einem Hotel in Tripolis tagten, meldete sich der untergetauchte Despot Gaddafi mit einer Audiobotschaft, in der er seine Anhänger erneut zum Kampf "gegen die Ratten" aufrief. Britischen Angaben zufolge erhalten die Rebellen bei der Jagd nach dem langjährigen Machthaber Hilfe von der Nato.

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