Süddeutsche Zeitung

Übergangsregierung in Belgien:Die Lust am Provisorium

Die Wahlsieger sind unfähig, eine Koalition zu bilden. Deshalb regiert der abgewählte Premier einfach weiter. Woanders würde man das Chaos nennen, aber die Belgier haben sich seit einem Jahr bequem eingerichtet in dieser Konstellation. Sie könnte zum Dauerzustand werden.

Cerstin Gammelin, Brüssel

Richtig offiziell festlegen will sich Yves Leterme keinesfalls. Er könne nicht sagen, wie lange er als geschäftsführender Premier noch in Belgien regieren werde, erklärt der konservative Flame im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Das sei ja gerade so besonders an einer provisorischen Regierung. "Sie weiß nicht, wie lange sie im Amt bleiben wird."

"Wir erfüllen alle Aufgaben, die uns der König aufträgt"

Dieser Unsicherheit habe er seinen Regierungsstil angepasst. Er plane jetzt in Perioden von "fünf bis sechs Wochen". Zurzeit werde der Haushalt für 2012 debattiert, eine Stromsteuer und die Zukunft der Atomkraftwerke."Wir erfüllen alle Aufgaben, die uns der König aufträgt", sagt Leterme. Und lächelt zufrieden. Darunter sei sogar ein Kriegseinsatz gewesen. "Unsere spektakulärste Entscheidung war die Teilnahme an der Allianz für die Flugverbotszone in Libyen."

Ein König, der einem vor Jahresfrist grandios abgewählten Premier immer neue Regierungsanweisungen gibt, die das ebenfalls abgewählte Parlament dann beschließt, während die eigentlichen Sieger der Neuwahlen stetig vor sich hin streiten und so unwillig wie unfähig sind, eine neue Koalition zu bilden - dass ein demokratisches Land in Westeuropa auf diese Weise regiert werden kann, galt lange als praktisch unvorstellbar. Doch was anderswo nicht mal gedacht wird, praktizieren die Belgier mit Hingabe. Sie hausen in einem politischen Provisorium, das ihnen gerade einen Weltrekord beschert hat.

Das Land ist seit einem Jahr ohne Regierung. Am 26. April 2010 nahm der belgische König Albert II. den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Leterme an. Die Koalition war am ewigen Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen zerbrochen. Bei Neuwahlen siegten die rechtspopulistische Neue Flämische Allianz in Flandern und die frankophonen Sozialisten in der Wallonie - was allerdings keinerlei Konsequenz etwa in Form einer neuen Koalition nach sich zog. Stattdessen regiert Leterme als lachender Dritter weiter. Ja, seine Partei habe die Wahlen haushoch verloren, aber er müsse die Geschäfte weiterführen, bis es eine neue Regierung gibt, sagt der Premier. "Ich fühle mich verantwortlich für das Land."

Also handeln die beiden streitenden Wahlsieger geradezu verantwortungslos? So deutlich will er das nicht sagen. "Es ist nicht meine Aufgabe, Kollegen zu kritisieren. Ich sehe nur, dass seit dem 26. April 2010 keine Regierung da ist, also muss ich weitermachen. Das ist meine Aufgabe, nicht, mich um die Psychologie der Kollegen zu kümmern."

"Brechen Sie nicht in Panik aus, alles unter Kontrolle"

Natürlich spüre er täglich die paradoxe Situation, sagt der Politiker über sein Amt auf Abruf. "Ich muss die Wahlsieger drängen, eine neue Regierung zu bilden. Ich muss auch die Bürger beruhigen, dass es auch ohne neue Koalition keinen Grund zu Sorge gibt. Ich muss um das Vertrauen der Finanzmärkte werben: Brechen Sie nicht in Panik aus, alles ist unter Kontrolle."

Stolz zählt er auf, was seinem stabilen Provisorium schon gelungen ist: "Wir haben das Defizit von fast sechs Prozent auf 3,6 Prozent reduziert. Wir haben weniger Schulden als viele andere Länder gemacht, die Beschäftigungsrate ist gut, wir haben einen Handelsbilanzüberschuss", redet er sich in Begeisterung. Eine geschäftsführende Regierung könne effektiver arbeiten, weil sie keine Rücksicht nehmen müsse auf institutionelle, regionale, und kommunale Interessen, sagt Leterme. "Wir entscheiden in der Sache."

Es hört sich fast an, als wäre es sinnvoll, bliebe es nur bei diesem Provisorium, schließlich sind in den vergangenen Jahren reihenweise belgische Regierungen an flämischen und frankophonen Befindlichkeiten sowie anderen Affären zerbrochen. Leterme selbst musste Ende Dezember 2008 nach nur acht Monaten im Amt als Premier wegen einer Bankenaffäre zurücktreten. Danach führte Herman Van Rompuy die föderale Koalition, bis er Ende Dezember 2009 zum ersten Präsidenten des Europäischen Rates bestimmt wurde.

Als Van Rompuy ging, kam Leterme zurück. Nach weiteren vier Monaten scheiterte er am Sprachenstreit. Seine längste Amtszeit legte er bisher als geschäftsführender Premier hin. Ist angesichts solcher Wechsel eine dauerhaft geschäftsführende Regierung nicht das Beste, was Belgien passieren kann?

Nein, das alles bedeute nicht, dass Belgien keine Regierung brauche, wiegelt der 51 Jahre alte Politiker ab. "Wir brauchen eine! Es sind viele Gesetzesvorhaben, die brachliegen, unsere Einwanderungspolitik, die Kriminalitätsbekämpfung." Das größte Problem sei das Pensionssystem. "Wir müssen es schrittweise anpassen. Je mehr Zeit vergeht, desto harscher, desto unsozialer werden die Reformen ausfallen", warnt Leterme. So weit werde er es selbstverständlich nicht kommen lassen.

Doch das heißt nicht, dass er mit einer zügigen Regierungsbildung rechnet. Geprägt durch seine eigenen volatilen Amtszeiten richtet Leterme sich darauf ein, das stabile Provisorium dauerhaft fortzuführen. "Wenn es noch ein paar Monate so weitergeht, werden wir eine Liste aufstellen mit Dossiers und Entscheidungen, die getroffen werden müssen", erklärt der erfahrene Politiker. Um diese Liste abzuarbeiten, müsse er dann nur noch ein Mandat bekommen.

Leterme will keine Neuwahlen

Und Leterme will sich dieses Mandat zum Weiterregieren ausstellen lassen - aber nicht vom Volk in einer Neuwahl. "Der König muss ein solches Mandat unterschreiben, das Parlament mitmachen. Wir hatten Ende Januar eine ähnliche Situation. Der König forderte, einen Haushalt zu entwerfen und ein Reformprogramm. Er hat uns das Mandat dafür gegeben, und wir haben alles gemacht."

Mit einem der beiden Wahlsieger eine neue Koalition zu schmieden, lehnt der Jurist ab. Es sei normal, dass Wahlsieger die Verantwortung übernehmen. "Also müssen sie in die Regierung." Er weiß natürlich auch, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass dies gelingt. In den kommenden beiden Jahren wird regional und kommunal gewählt, und im Wahlkampf machen Parteien noch weniger Zugeständnisse. Leterme zuckt mit den Schultern: "Ja, das ist typisch vor Wahlen."

Dass das föderale Land Belgien doch noch in Flandern und in die Wallonie zerfallen könnte, glaubt er nicht. "Ich bin überzeugt, dass wir die institutionellen Probleme lösen können", wiegelt Leterme ab. Eines sei sicher: "Belgien wird nicht auseinanderbrechen." Warum das plötzlich so kategorisch ausgeschlossen sein soll, mag er nicht erklären. Offen bleibt auch, welche Sprache der in Westflandern Geborene am liebsten spricht. "Meine Muttersprache ist Niederländisch, meines Vaters Sprache Französisch. Ich denke, ich spreche flüssiger Niederländisch, aber ich arbeite am Französisch."

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SZ vom 28.04.2011/olkl
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