Übereilte Bundestagsabstimmung zum Melderecht:Unter dem Radar der Öffentlichkeit

Deutschland spielt im EM-Halbfinale gegen Italien, gleichzeitig beschließen ein paar Abgeordnete im Bundestag in nur 57 Sekunden das neue Meldegesetz. Zwar war dies formal wohl korrekt, sorgt nun aber für einen gewaltigen Proteststurm. Regierung und Opposition haben die Brisanz des neuen Gesetzes schlicht unterschätzt. In der verabschiedeten Form wird es nun wohl nicht in Kraft treten.

Thorsten Denkler, Berlin

Gerade mal zwei Dutzend Abgeordnete halten die Stellung im Bundestag an diesem späten Abend des 28. Juni 2012. Parallel läuft das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft in Warschau. Deutschland gegen Italien. Der Klassiker. Deutschland verliert. Balotelli trifft, zwei Mal.

Für die meisten Deutschen ist das sicher spannender als der Tagesordnungspunkt 21, den Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau von der Linken aufruft: Die zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens, Drucksache 17/7746.

Keine 60 Sekunden später ist das Gesetz verabschiedet. Für alle zu sehen auf den Aufnahmen aus dem Plenarsaal. Niemand im weiten und fast leeren Rund hat damals wohl erwartet, welche Wellen das Gesetz eine gute Woche später schlagen würde.

Von einem Datenschutzskandal ist jetzt die Rede, von einer "Nacht- und Nebel-Aktion" des Bundestages. Die Abgeordneten müssen Hohn und Spott über sich ergehen lassen.

Für Außenstehende muss es tatsächlich merkwürdig wirken: Innerhalb von 57 Sekunden wird das Gesetz vermeintlich durchs Parlament gejagt. Die Reden dazu werden lediglich zu Protokoll gegeben. Die Redner sind während der Sitzung gar nicht anwesend - ihre Texte lediglich im schriftlichen Protokoll nachzulesen.

"Melderecht hat buchstäblich niemanden interessiert"

Die SPD verschickt am nächsten Morgen immerhin eine dürre Pressemitteilung, in der sie die Änderungen in dem Gesetz geißelt. Die machen es Adresshändlern gegenüber der Ursprungsversion des Gesetzes leichter, an die Daten der Bürger heranzukommen, die von den Meldeämtern erhoben werden.

Der entscheidende Änderungswunsch in Paragraph 44 ist bereits am 15. Juni der Opposition bekannt gemacht worden. Am Tag vor der entscheidenden Bundestagssitzung am 28. Juni hat der Innenausschuss des Bundestages die geänderte Fassung des Gesetzes mehrheitlich abgesegnet. Den Berichterstattern der Opposition war also schon früh klar, worauf das hinauslaufen würde.

Wolfgang Wieland von den Grünen weist den Vorwurf zurück, die Opposition habe da ein wichtiges Thema verschlafen. Zwar seien auch ihm die Änderungswünsche der Koalition seit dem 15. Juni bekannt gewesen, sagt er. Er habe jedoch versucht, eine breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen. Aber das "Melderecht hat buchstäblich niemanden interessiert", sagte er Süddeutsche.de. SPD und Grüne hätte zudem noch vor der Sitzung des Innenausschusses verabredet, das Gesetz im Bundesrat zu Fall zu bringen.

In ihren Protokollreden übt die Opposition entsprechend Kritik an dem Gesetz. Für Gabriele Fograscher, SPD, ist das Gesetz ein "Rückschritt" in Sachen Datenschutz. Jan Korte von der Linken sieht den Schutz vor der kommerziellen Nutzung der Meldedaten als "ungenügend" an. Und für den Grünen Wolfgang Wieland ist das Gesetz einfach nur "ärgerlich".

Von neun Uhr am Morgen bis neun Uhr am Abend

Bereits Ende 2011 hat die Bundesregierung das erste bundeseinheitliche Meldegesetz beschlossen und es im April 2012 in den Bundestag eingebracht. Die internen Debatten darüber verliefen eher unaufgeregt.

Abstimmung über neues Meldegesetz im Bundestag

Wenig los im Bundestag: Die Abstimmung bei der 187. Sitzung über den Tagesordnungspunkt 21 zur Fortentwicklung des Meldewesens.

(Foto: dpa)

Auch die Opposition hatte zunächst nicht viel zu bemängeln. Einigen ging es zu weit, dass Soldaten, die regelmäßig versetzt werden, sich immer an ihrem jeweils neuen Dienstort anmelden sollten - während die Familie oft am selben Ort bleibt. Andere fanden es übertrieben, dass der Vermieter einen Einzug in die neue Wohnung bestätigen soll. Eine Reglung, die viele Länder abgeschafft hatten, um Bürokratie zu vermeiden.

Einen Grund für einen verbalen Schlagabtausch im Plenum sah offenbar niemand. In der Woche zuvor einigten sich die parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen deshalb einvernehmlich darauf, diesen Tagesordnungspunkt auf den Donnerstagabend zu legen. Und das bedeutet in der Regel: ohne Aussprache.

Das ist zunächst ein völlig normaler Vorgang. Das Schicksal, ohne Debatte behandelt zu werden, erleiden meist solche Gesetze und Anträge, die unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle diskutiert werden. Für das Meldegesetz hatten sich bis dahin - wenn überhaupt - nur Experten interessiert. So gesehen war die Entscheidung wohl folgerichtig.

Protokollreden sind in bestimmten Fällen eine überaus segensreiche Erfindung für den parlamentarischen Betrieb. Allein am 28. Juni wurden gut 40 Tagesordnungspunkte aufgerufen. Von neun Uhr am Morgen bis 21:10 am Abend berieten die Abgeordneten, debattierten und entschieden. Hätte es für alle Themen gleich viel Beratungszeit gegeben, wären für jeden Punkt kaum mehr als 15 Minuten drin gewesen. Dabei dauerte die Debatte über das hoch umstrittee Betreuungsgeld am Vormittag schon über 90 Minuten.

Alle Reden zusammen summieren sich im Protokoll auf 314 DIN A4-Seiten. Nach gut 11 Stunden Beratungszeit hatte das Parlament gerade einmal die ersten 156 Seiten gefüllt. Alle nachfolgenden Reden und Erklärungen wurden daher zu Protokoll gegeben - anderenfalls wäre diese Sitzung unweigerlich mit dem Beginn der nächsten Sitzung am Freitagmorgen um neun Uhr kollidiert.

Unglücklich gelaufen

Von Nacht und Nebel-Aktion, von Verschwörung gar, kann da kaum eine Rede sein. Das nehmen nicht mal Vertreter der Opposition ernsthaft an. Unglücklich gelaufen, das schon eher. Für die Opposition, weil sie sich jetzt vorwerfen lassen muss, sie habe die Tragweite des Themas erst spät begriffen. Dabei hätte sie zwar kurzfristig den Tagesordnungspunkt aus der Protokoll-Ecke herausholen können. Das wäre allerdings nur schwer zu vermitteln gewesen. Denn stattdessen wäre wohl die Debatte über die Anti-Rechtsterror-Datei in den Protokollbereich abgewandert.

Für die Regierungsfraktionen aber ist es richtig dumm gelaufen. Sie haben ein Gesetz verabschiedet, das in dieser Form sicher nicht in Kraft treten wird. Nachdem die CSU und Teile der FDP aufgeschreckt Änderungsbedarf anmahnen, macht jetzt auch Regierungssprecher Steffen Seibert klar, dass das umstrittene Meldegesetz im weiteren parlamentarischen Verfahren wieder verändert wird.

Der Bundesrat ist zustimmungspflichtig. Wenn die Länder nicht mitmachen, scheitert das Gesetz. Und die Länder mit roter und grüner Regierungsbeteiligung werden schon dafür sorgen, dass das neue Melderecht nicht noch einmal unter dem Radar bleibt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: