Politik im sozialen Netzwerk:Wie Abgeordnete über Twitter denken

Konstantin von Notz (Grüne) im Deutschen Bundestag

Bundespolitik in 280 Zeichen: Konstantin von Notz (Grüne) nutzt wie viele andere Abgeordnete den Kurznachrichtendienst Twitter.

(Foto: Gregor Fischer/picture alliance / dpa)

Der Kurznachrichtendienst hat auch für politische Debatten große Bedeutung. Mit Sorge beobachtet man im Bundestag, wie sich die Übernahme durch Elon Musk auf die Plattform auswirkt.

Von David Wünschel

Als im vergangenen Jahr nach der Bundestagswahl das Kabinett sich Stück für Stück füllte, gab es um einen Posten besonders lange und intensive Debatten: den des Gesundheitsministers. Dabei lag - zumindest fachlich - die beste Besetzung für viele auf der Hand: Karl Lauterbach war während der Pandemie zu ihrem Erklärer geworden und hatte auf Twitter ohne Unterlass Studien und Handlungsempfehlungen verbreitet. Lauterbach hat dort mehr Follower als jeder andere deutsche Politiker, etwa eine Million. Viele von ihnen forderten Lauterbachs Ernennung. "Ohne Twitter wäre er womöglich nicht Gesundheitsminister geworden", sagt Konstantin von Notz, Digitalpolitiker bei den Grünen.

Das Beispiel zeigt, welche Relevanz der Kurznachrichtendienst für den Berliner Politikbetrieb besitzt. Es sei eine zentrale Kommunikationsplattform, sagt von Notz. Unter Hashtags wie #MeToo und #medizinbrennt entstehen Debatten, die später in Talkshows, in Zeitungen und im Bundestag landen. Einer Auswertung der Meinungsforschungsagentur Pollytix zufolge haben etwa 80 Prozent der Bundestagsabgeordneten einen Account. All das droht nun zu zerfallen.

Seit der Multimilliardär und Tesla-Chef Elon Musk Twitter übernommen hat, hat er einen großen Teil der Angestellten gefeuert, andere haben selbst gekündigt. Noch ist unklar, wie stark Twitter darunter leiden wird. Nutzerinnen und Nutzer archivieren ihre Tweets und Nachrichten, weil sie Angst haben, dass die Seite zusammenbricht und ihre Daten für immer verloren gehen könnten. Viele wandern vorsorglich zu Mastodon ab, einem ähnlichen Netzwerk. Auch einige Abgeordnete haben dort einen Account. Aber bislang hat kaum jemand Twitter komplett den Rücken gekehrt.

Der Preis wäre einfach zu hoch, sagt Anke Domscheit-Berg, Digitalpolitikerin der Linken. Mit mehr als 100 000 Tweets ist sie mit Abstand die aktivste Abgeordnete. Vor allem als schnelle und verlässliche Informationsquelle sei Twitter alternativlos: Wenn etwas Wichtiges passiere, bekomme sie es in ihrer Timeline meist als Erstes mit, sagt Domscheit-Berg. Sie nutze die Plattform aber auch, um sich mit anderen Expertinnen und Experten zu vernetzen und um sich mit ihren rund 43 000 Followern auszutauschen - beispielsweise frage sie, welche Themen sie in einem bestimmten Ausschuss oder Gremium ansprechen solle. "Ich kann hier zeigen: Ich bin euer Instrument im Bundestag."

Negativkampagnen haben zugenommen

Für andere Abgeordnete ist Twitter auch eine Art persönliche Pressestelle. Wenn man in aktuellen Debatten vorkommen wolle, müsse man heute möglichst schnell einen Tweet mit passendem Hashtag absetzen, sagt Konstantin von Notz. Der CDU-Politiker Michael Grosse-Brömer nutzt die Plattform unter anderem, um dort auf fehlerhafte Behauptungen anderer Parteien hinzuweisen. Beim Streit um das Bürgergeld hätten beispielsweise einige Politiker der Regierungsparteien getwittert, die Union würde sich gegen eine Erhöhung der Regelsätze stellen - was nachweislich falsch war. "Um solche Sachen schnell richtigzustellen, ist Twitter besonders gut geeignet", sagt Grosse-Brömer.

Der Mannheimer Sozialwissenschaftler Marius Sältzer hat rund 1,2 Millionen Tweets von Kandidaten für die Bundestagswahl ausgewertet. Eines der Ergebnisse: Zwischen 2013 und 2021 hat sich der Anteil des "Negative Campaigning", also des Herfallens von Politikern über andere, mehr als verdoppelt; im vergangenen Wahlkampf machte es Sältzer zufolge etwa 14 Prozent aller Tweets aus. "Es ist das beste Medium, um sich über andere lustig zu machen", sagt Sältzer. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnete Twitter einmal gar als "Klowand": Man schmiere etwas drauf und sei dann weg.

Viele haben die Befürchtung, dass sich das Klima auf Twitter durch Musks Übernahme verschlimmern könnte. Als Saskia Esken sich vor einigen Wochen von der Plattform verabschiedete, begründete sie dies in einem Gastbeitrag in der Zeit auch damit, dass der einst "fröhliche Diskurs" nun unter einer "dicken Schicht von Clickbait-getriebener Empörung, oft misogynem Hass und von Fake Accounts und Fake News" begraben sei - und die Verantwortlichen nichts dagegen unternehmen würden.

Der Account von Donald Trump etwa, der nicht gerade bekannt für seine sanfte Wortwahl ist, ist seit vergangenem Wochenende wieder freigeschaltet: Musk hatte eine Umfrage aufgesetzt, in der 52 Prozent für eine Rückkehr des Ex-Präsidenten votierten. So trifft der neue Twitter-Chef, der sich als "Absolutist der Redefreiheit" bezeichnet, seine Entscheidungen. Hass-Tweets sollen künftig nicht mehr gelöscht, sondern nur noch in ihrer Reichweite beschränkt werden, verkündete Musk unlängst. Nur: Was hilft das denjenigen, die den Hass direkt abbekommen?

Twitter sei nun in den Händen eines "durchgeknallten Teenagers"

Von der einstigen Utopie, dass die Plattform den demokratischen Diskurs zwischen Bürgern und Politikerinnen stärkt, ist nicht viel übrig geblieben. Grosse-Brömer, seit 20 Jahren Bundestagsabgeordneter, glaubt, dass Twitter in Teilen der Gesellschaft zur Verrohung der politischen Debatte beigetragen hat. Es sei nun mal "auch ein Pöbelmedium", und die "Choleriker, die früher im Dorf gepöbelt" hätten, täten dies nun in ihren Tweets. Immerhin: Die Debattenkultur im Bundestag sei von dieser Verrohung bislang nicht erfasst worden.

Und für den Austausch zwischen Politikern und Journalistinnen ist Twitter nach wie vor unerlässlich. Deshalb sei es dramatisch, was gerade in Kalifornien passiere, sagt Konstantin von Notz: Musk habe 44 Milliarden Dollar investiert, aber anscheinend keinen Plan, wie er Refinanzierung und Zinsen erwirtschaften solle. Es sei "hochgradig beunruhigend, dass ein einzelner Mensch die Macht besitzt, eine in unserer digitalen Welt zentrale Kommunikationsplattform zu seinem Spielball zu machen". Niemand wisse, was mit all den sensiblen Daten passiere, die auf den Twitter-Servern lagern.

Trotzdem wolle er, obwohl er sich bereits vor zwei Jahren eine Instanz auf Mastodon zugelegt habe, vorerst weiterhin auf Twitter aktiv bleiben, sagt von Notz: Es brauche in sozialen Netzwerken politische Pluralität; er habe wenig Lust, Twitter den "radikalen Hatern" zu überlassen. Domscheit-Berg sieht es ähnlich. Twitter sei nun in den Händen eines "hormongesteuerten, durchgeknallten Teenagers"; sie glaube nicht, dass die Plattform noch zu retten sei. Sie wolle aber noch warten, bis sie die Reißleine ziehe und Twitter verlasse - auch aus Solidarität mit anderen Nutzerinnen und Nutzern: "Wenn man zu früh geht, lässt man auch die alleine, die verletzlich sind und emotionale Unterstützung brauchen."

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