Elefantenrunde in NRW:Krafts Kuschelkurs in der Wahlarena

So jung und schon Koalitionspartner? Der Spitzenkandidat der Piraten für NRW, Joachim Paul, ist in der TV-Elefantenrunde im WDR-Fernsehen so überzeugend, dass SPD-Ministerpräsidentin Kraft eine Zusammenarbeit auslotet. Überhaupt gibt es erstaunliche Übereinstimmungen, sogar zwischen CDU und Linken.

Michael König

Am Anfang probierte Sylvia Löhrmann es noch. Die Spitzenkandidatin der Grünen ist eine Leidtragende der Piraten. Deren Aufstieg mindert Löhrmanns Chancen auf eine rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen. Deshalb lenkte sie das Thema zu Beginn der Elefantenrunde im WDR-Fernsehen schnell weg von Joachim Paul, wenn der etwas Kluges gesagt hatte. Löhrmanns Problem: Paul sagte laufend kluge Dinge. Und so gab sie ihre Strategie bald auf.

NRW-Spitzenkandidaten diskutieren bei TV-Runde 'Wahlarena 2012'

Die NRW-Spitzenkandidaten im Studio: Katharina Schwabedissen (Linke), Norbert Röttgen (CDU), Sylvia Löhrmann (Grüne), Hannelore Kraft (SPD), Joachim Paul, der Spitzenkandidat der Piratenpartei, und Christian Lindner (FDP).

(Foto: dapd)

Während die Sendung noch lief, schrieb der offizielle Partei-Account der NRW-Grünen bei Twitter: "Schule verordnet man nicht von oben - gutes Zitat vom Piraten". Und der offizielle SPD-Blogger Christian Soeder gratulierte an gleicher Stelle: "Beeindruckend, wie stark @Nick_Haflinger (so heißt Paul bei Twitter; Anm. d. Red.) agiert hat."

Der 54-jährige Biophysiker Paul war der Gewinner des TV-Gipfels, zu dem der WDR die Spitzenkandidaten der sechs aussichtsreichsten Parteien nach Mönchengladbach gebeten hatte. Eineinhalb Wochen vor der Landtagswahl am 13. Mai sollten sie ihre Positionen vertreten und Aussagen zu möglichen Koalitionen treffen. Dass Letzteres gar nicht unbedingt nötig war, weil sich die Überschneidungen wie von selbst ergaben, lag auch an dem Ober-Piraten.

Der präsentierte sich während der gesamten Sendezeit rhetorisch auf Augenhöhe mit den anwesenden Profi-Politikern Hannelore Kraft (SPD-Ministerpräsidentin), Norbert Röttgen (CDU), Christian Lindner (FDP), Katharina Schwabedissen (Linke) und Sylvia Löhrmann. Mehr noch: Es hatte den Anschein, als werde Paul - vor allem von Kraft - auf seine Fähigkeit als Kooperationspartner geprüft. Dass ihm das schlagfertige Moderatorenduo Jörg Schönenborn und Sabine Scholt manche Falle stellte, störte Paul dabei nicht.

Mindestlohn als "Brückentechnologie"

Stichwort Benzinpreise: Wie die Piraten zu der "Markttransparenzstelle" stehen, die von der schwarz-gelben Bundesregierung befürwortet wird? Im Internet gebe es da drei Positionen seiner Partei. Paul antwortete trocken: "Das zeigt, dass die Partei lebt." Man befürworte einen freien, aber transparenten Markt und werbe für einen fahrscheinlosen öffentlichen Personennahverkehr als Alternative zum Auto.

Wie das gehe? Nun, eine Stadt in Belgien probiere das gerade aus, und auch die estnische Hauptstadt Tallinn wolle das Modell eines umlagefinanzierten ÖPNV testen. "Wir Piraten kopieren gerne, wir wollen das auch ausprobieren", sagte Paul und erntete Gelächter in der Runde.

Den von Linken, SPD und Grünen angestrebten Mindestlohn kritisierte Paul als "Brückentechnologie" hin zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE), bei dem jeder Bürger Geld vom Staat bekommt, ohne dafür etwas tun zu müssen. Auf den Einwand der Konkurrenz, die Menschen würden dann nicht mehr arbeiten, entgegnete Paul: "Wir sind weltweit führend, was die Kultur des Ehrenamts betrifft." Aus der Runde kam kein Widerspruch - nur Löhrmann fühlte sich bemüßigt, das BGE als "neoliberal" zu bezeichnen.

Hannelore Kraft stimmte dem Piraten hingegen immer häufiger zu und ging regelrecht auf Kuschelkurs. Paul erntete heftiges Nicken der präsidial auftretenden SPD-Ministerpräsidentin, als er klagte, Eltern müssten ihre Schulen selber renovieren, weil das Land dafür kein Geld gebe. Nicht Banken, sondern Menschen seien systemrelevant, mahnte er.

Als Paul die Forderung nach kleineren Schulklassen in NRW formulierte, rief Kraft dazwischen: "Das will ich auch!" Aber wo das Geld herkommen solle? Paul sagte: "Natürlich müssen wir diese Frage beantworten. Aber lassen Sie uns klein anfangen. Schritt für Schritt." Den Satz hätte auch von Kraft selbst kommen können, die in zwei Jahren rot-grüner Minderheitsregierung eine "Politik der Einladung" betrieben hatte - bis die Opposition beim Haushaltsentwurf für 2012 nicht mehr mitmachen wollte.

Neues deutsches Farbenspiel

Die Harmonie im TV-Studio gipfelte darin, dass Kraft im Hinblick auf das Programm der Freibeuter philosophierte, wie eine Zusammenarbeit mit den Piraten im Landtag aussehen könne: "Ich stelle mir das vor, aber es gelingt mir nicht", sagte Kraft, "jedenfalls müssten Sie dort die Frage beantworten: wie viel Geld geben Sie wofür aus?" Daraufhin Paul, Kraft fest im Blick: "Da müssen wir an der Stelle unser Programm einem Realitätscheck unterziehen. Da müssen wir Prioritäten setzen, mit Ihnen zusammen."

War das schon das Angebot einer Koalition? Nein, stellte Paul klar, zu Bündnissen wolle er keine Aussage machen. Auch Kraft betonte, Rot-Grün (in Umfragen derzeit mit einer Mehrheit) sei das Ziel. Aber in den Zwischentönen klang es stark danach, als müsse sich Deutschland mittelfristig auf ein neues Farbenspiel gefasst machen: die rot-grün-orange Koalition.

Kurzfristig bleibt die Erkenntnis, dass sich NRW in zwei Jahren Minderheitsregierung erstaunlich entwickelt hat. War die Elefantenrunde 2010 noch geprägt vom Lagerwahlkampf Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb, so rief ausgerechnet der CDU-Spitzenkandidat Röttgen das "Ende der Lagersituation" aus. Es werde "immer wieder unterschiedliche Konstellationen geben", sagte der Bundesumweltminister. "Die Demokratie wird dadurch bunter." Manch ein Anhänger schwarz-gelber Traditionen wird da heftig mit dem Kopf geschüttelt haben.

Was Kraft und Löhrmann in ihrer gesamten Regierungszeit propagiert hatten, funktionierte auch im Fernsehstudio: Die Kooperation über Parteigrenzen hinweg. Zwar ging der Streit um die von Rot-Grün angestrebte Neuverschuldung, das bestimmende Wahlkampfthema, mit bekannten Argumenten weiter. Doch freute sich etwa die wahlkämpfende Linken-Kandidatin Schwabedissen, von Röttgen gehört zu haben, "dass Sie die Wirtschaft auch an die Kandare nehmen wollen". Die Union lerne von den Linken, das sei erfreulich. Röttgen quittierte es mit einem Lachen.

Spalterische Debatte um das Betreuungsgeld

Beim Betreuungsgeld steht's fünf gegen einen

Beim Thema Betreuungsgeld schossen sich fünf von sechs Kandidaten darauf ein, den Irrsinn der vor allem von der CSU gewollten "Herdprämie" zu geißeln. Vorneweg FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner, der CSU-Chef Horst Seehofer ermahnte, dieser müsse "erkennen, dass die CSU eine spalterische Debatte in der eigenen Partei ausgelöst hat. Ich würde mich freuen, wenn Seehofer die Souveränität besäße, jetzt zu sagen: Das Geld nutzen wir stattdessen für zusätzliche Einsparungen im Haushalt." Gleichwohl sagte Lindner auf Nachfrage, die FDP im Bund sei "vertragstreu", wenn das Betreuungsgeld zur Abstimmung stehe. Im Koalitionsvertrag hatten die Liberalen die Forderung danach mitgetragen.

Röttgen zog sich - ähnlich wie im TV-Duell gegen Kraft am Montag - auf die Linie zurück, das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen und nicht in eine Kindertagesstätte gäben, sei "noch in der Diskussion, und die Diskussion ist im Gange". Rechts von ihm redete Lindner ausdauernd dazwischen ("Nein, Norbert, nein!") und sagte schließlich: "Wie machen wir das mit staatlich geförderten Opernhäusern? Bekomme ich da einen Scheck, wenn ich nicht hingehe?" Röttgen gab zurück: "Das Argument kenne ich, aber Opernhäuser sind etwas ganz anderes als Kinderbetreuung." Daraufhin witzelte Grünen-Kandidatin Löhrmann: "Ach, Kultur ist auch wichtig für Kinder ..."

Zwischendurch blendete die Bildregie Umfragewerte ein, die im paritätisch nach Wählergruppen besetzten Studiopublikum erhoben worden waren. 76 Prozent votierten gegen das Betreuungsgeld - Röttgen nahm es mit regungsloser Miene hin. 61 Prozent forderten, die Parteien sollten sich vor der Wahl auf einen Koalitionspartner festlegen.

Die Grünen-Frontfrau Löhrmann war es dann, die zum Schluss einen dringlichen Aufruf an die Wähler richtete: Der Ausgang der Wahl 2010 sei ganz knapp gewesen, "deshalb appellieren wir an die Menschen, sie sollen uns ein klares Ergebnis bescheren". Ob es die Grünen zur Not abermals mit einer Minderheitsregierung probieren würden, sagte sie nicht. Aber der Pirat Paul bot sich indirekt als Helfer an: Zwar wolle seine Partei zunächst "auf der Oppositionsbank lernen". Zu "thematischen Koalitionen" seien die Piraten aber bereit. Rot-Grün-Orange kann also kommen.

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